Gefährliches Spiel der Versuchung
gefirnisstem Papier, das alle Wunder der Welt außerhalb der Armenviertel von St. Giles zeigt. An meinem ersten Tag hat die Direktorin mich eingeladen, mir einen neuen Namen für ein neues Leben auszusuchen. Also habe ich die Sphäre in Bewegung gesetzt und beobachtet, wie die Städte langsam kreisen.« Sie zuckte die Schultern. »In kindlichen Ohren klingt Shannon sehr hübsch.«
»In der Tat.« Er lehnte sich näher zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Sionainn.«
»Was ...?«
»Auf Gälisch hört es sich noch bezaubernder an.«
Sie fluchte, aber mit wenig Druck dahinter.
»Und weit interessanter als Alexandr.« Er sprach den Namen betont russisch aus. »Kein Zweifel, dass es sich abermals nur um einen Kompromiss zweier widerstreitender Kulturen handelte. Vermutlich hätte mein Vater lieber Rurik oder Yaroslav gewählt, während meine Mutter John oder George den Vorzug gegeben hätte.«
Shannon konnte ihr Lächeln nicht verbergen. »Sie lassen sich auf einen Kompromiss ein? Es wundert mich, dass Sie nicht vorgeprescht sind und Ihre eigenen Wünsche in der Angelegenheit geäußert haben.«
»Ich war ein wohlerzogenes Kind. Sagt man jedenfalls.«
»Ha! Höchstwahrscheinlich haben Sie Ihre Kinderfrau terrorisiert und Ihre eigene Mutter Schritt für Schritt in den Wahnsinn getrieben.«
»Nein, solche Taten habe ich meinem Vater überlassen.«
Shannon musterte ihn nachdenklich, bevor sie weitersprach. »Habe ich den wunden Punkt getroffen?«
Verdammt. Orlov hätte wissen müssen, dass sie zu scharfsinnig war, um seine leichte Entgleisung zu überhören. »Überhaupt nicht. Es gibt nur wenige Kostbarkeiten, die meinen Schutzschild durchdringen können, außer vielleicht eine streuende Bleikugel oder eine Stahlklinge.« Orlov wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Die schmale Kajüte schien heftiger zu schaukeln als zuvor. »Wo wir gerade darüber sprechen, haben Sie noch einen Rest Whisky in Ihrem Riechfläschchen?«
Kommentarlos holte Shannon das Fläschchen und wartete, bis er den Inhalt mit zwei raschen Schlucken geleert hatte. Sie drehte sich um und löschte die Lampe. Er hörte die Bretter knarzen, als sie sich in ihre Koje legte.
»Träumen Sie süß, Alexandr.«
Seine Lippen zuckten. Immerhin, in einer Hinsicht benahm sie sich wie eine typische Frau. Denn nur eine Frau konnte überzeugt sein, dass sie immer das letzte Wort haben musste.
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6. Kapitel
W as dauert eigentlich so verdammt lange?«, wollte Orlov wissen. »Wir hätten schon längst in Southampton einlaufen müssen.«
Shannon nahm ihren Umhang vom Haken. »Dem Kapitän waren Gerüchte über einen französischen Piraten zu Ohren gekommen, der sich am Land's End herumtreibt. Er war gezwungen, in nördlicher Richtung nach den Scilly Islands auszuweichen, um eine Begegnung zu vermeiden. Und jetzt ...« Sie hielt inne, lauschte den knarrenden Segeln an den Mastbäumen und den polternden Tritten an Deck. »Es zieht ein Sturm auf. Ich nehme an, dass es zu weiteren Verzögerungen kommen wird.«
Er unterdrückte einen Fluch.
»Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht unbedingt darum reißen, den Fuß auf englischen Boden zu setzen.«
»Ich würde sogar Newgate vorziehen! Denn der Fußboden im Gefängnis tanzt nicht so herum wie dieser verdammte Derwisch.« Orlov sog die Luft in die Lungen und atmete angewidert aus. »Und der Gestank könnte auch nicht schlimmer sein.«
Shannon konnte ihm seine schlechte Stimmung nicht vorwerfen. Auch sie würde fluchen, wenn sie in einem solch dunklen, feuchten Loch eingesperrt gewesen wäre. Ein Seitenblick bestätigte ihr, dass der Russe unter den blonden Bartstoppeln so blass war wie ein Geist.
Ihre Blicke begegneten sich, und sie bemerkte, dass er die Zähne zusammenbiss. »Nehmen Sie mich mit.«
»Die Befehle des Kapitäns sehen vor, dass ...«, begann sie.
»Zum Teufel mit den Befehlen des Kapitäns!« In seinen Augen blitzte es trotzig, zusammen mit einer unausgesprochenen Bitte. »Verdammt noch mal, es ist hier unten, als wäre ich in einem Sarg eingesperrt. Ich bin solche Untätigkeit nicht gewohnt. Sie können sicher gut verstehen, was ich meine.«
Es klopfte an der Tür, und Shannon wusste, dass die verabredete Zeit für ihren Spaziergang an Deck gekommen war. Sie schlug die Kapuze ihres Umhangs hoch und schlüpfte nach draußen, kehrte nach ein paar Minuten mit einer weiteren Ölhaut zurück. »Hier. Und machen
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