Gefährliches Spiel der Versuchung
Wir tun, was wir können. Lassen Sie uns abwarten, was die nächsten Tage bringen.«
Regen. Shannon strich sich die nassen Locken aus dem Gesicht und duckte sich unter dem sintflutartigen Erguss. Die schiefergrauen Wolken, die von der Nordsee her in das Land wehten, kamen mit einem peitschenden Wind, so scharf wie geschliffener Stein. Der Umhang bot nur unzureichenden Schutz vor seiner schneidenden Schärfe. Sie beschleunigte den Schritt, just in dem Moment, als eine Böe sie beinahe von den Füßen riss. Kaltes Wasser spülte über den Kiesweg. Die halbhohen Stiefel waren bereits aufgeweicht, die Füße bis auf die Knochen durchnässt.
Nur ein Verrückter wird sich bei solchem Unwetter vor die Tür wagen, dachte sie. Sie wusste, dass ihr Gang zu den Ställen vergeblich gewesen war. Natürlich hatte sie nicht ernsthaft damit gerechnet, dass D'Etienne im Stall herumlungerte und nur darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden. Aber sie war zu unruhig gewesen, um einen weiteren Tag im Haus auszuharren und in den undurchdringlichen Nebel zu starren.
Die Heide war nicht die einzige Landschaft, die in Düsterkeit versunken war. Auch Orlov hatte sich unerklärlicherweise in eisiges Schweigen gehüllt, sich in eine rätselhafte Einsamkeit zurückgezogen. Außer den flüchtigsten Unterhaltungen hatte er jedes Gespräch gemieden. Nicht dass sie das Bedürfnis verspürte, die Freundschaft zu vertiefen - falls ihr trügerischer Waffenstillstand damit überhaupt zu beschreiben war.
Die Umstände hatten seltsame Verbündete aus ihnen gemacht. So rasch wie das schottische Wetter konnte ihre erzwungene Vertraulichkeit in feindselige Konfrontation ausarten. Shannon klammerte die Finger fester an die windgeprüfte Kapuze. Zusammen mit seiner offen ausgesprochenen Unterstützung eines strategischen Bündnisses mit Russland hatte Lord Lynsley insgeheim ein paar warnende Worte gewispert. Falls das Bündnis mit Sankt Petersburg sich nicht den Erwartungen entsprechend entwickelte, war es an ihr - und zwar an ihr allein - Englands Interessen zu vertreten.
Freund oder Feind? Orlov tat recht daran, sie auf Armeslänge zu halten. Gefühlen war es nicht gestattet, die Pflichten zu überschatten. Und sie wusste nur zu gut, dass ihre eigenen unregierbaren Eigenschaften sich zu ihrem ärgsten Feind entwickeln konnten.
Shannon riss die Tür zur Spülküche auf, schüttelte ihren tropfnassen Regenumhang aus und streifte die nassen Strümpfe ab. Sie war entschlossen, ihre grüblerische Stimmung ebenfalls abzulegen. Der Unterricht war für diesen Tag erledigt, und Orlov hatte die Aufsicht über die Kinder übernommen, sodass ihr noch ein oder zwei Stunden freie Zeit blieben. Sie hatte die Absicht, diese Zeit zu nutzen und die Landkarten der Gegend zu studieren, die sie in der Bibliothek gefunden hatte. Strategische Entscheidungen waren häufig von geografischen Gegebenheiten abhängig. Und in dem geistigen Wettstreit mit dem todbringenden Franzosen wollte sie nichts unversucht lassen.
Aus den geöffneten Salontüren drang Gelächter an ihr Ohr. Obwohl sie barfuß war und in ihrem nassen Kleid zitterte, blieb Shannon in der Halle stehen und lugte hinein. Orlov brachte den Kindern das Schachspiel bei, während Lady Octavia am lodernden Kaminfeuer ein Schläfchen hielt. Ein dicker Kloß formte sich in Shannons Hals; schnell schluckte sie jegliches Bedauern darüber hinunter, dass sie außer der Academy weder ein Heim noch eine Familie besaß.
Es geschah nicht oft, dass sie Gedanken an ihr früheres Leben im Armenviertel von St. Giles zuließ. Sogar jetzt noch war die Erinnerung so schmerzhaft wie Dolchstiche, die ihr über die Haut tanzten: die schmalen Gassen nach weggeworfenem Essen zu plündern ... sich mit anderen Straßenkindern und Läusen in engen Kellern zu drängen ... und, was am schlimmsten war, die Raubtiere abwehren, die kleine Mädchen als leichte Beute sahen. In jenen Jahren war Angst ihr ständiger Begleiter gewesen. Viele Freunde waren Krankheiten zum Opfer gefallen, und ...
Genug! Shannon schloss ein paar Sekunden lang die Augen.
Das Leben war ungerecht. Aber immerhin war sie ausgebildet worden, zurückzuschlagen und in diesem Kampf zu bestehen.
Anders als Scottie und Emma hatte sie die Unschuld schon in frühen Jahren verloren. Was nur ein Grund mehr war, ihr Leben in die Waagschale zu werfen, um die beiden zu schützen. Ohne Rücksicht auf den Preis, den sie zu zahlen hatte.
Wieder hörte sie ein Kichern, und diesmal
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