Gefährliches Spiel
Einsamkeit, wie ein Alkoholiker einen Drink brauchte, ein Süchtiger den nächsten Schuss. Dringend, verzweifelt. Als müsste sie sterben, wenn sie sie nicht jetzt sofort bekommen könnte.
Wassily stand auch auf. Charity war nicht aufgefallen, dass er irgendetwas getan hatte. Er hatte ganz sicher kein Handy benutzt oder eine Handbewegung gemacht, aber in dem Moment, wo er stand, sah sie die Limousine vorfahren, lang und glatt und schwarz. Der Fahrer blieb genau so stehen, dass der Weg von ihrer Tür direkt an der hinteren Wagentür endete.
Wassily ging mithilfe seines Stocks langsam zur Haustür, elegant, kontrolliert, hinkend. Charity blieb neben ihm und hoffte, dass ihre Beine wenigstens so lange durchhalten würden, bis sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Sie stand kurz vor dem totalen Zusammenbruch.
Wassily wandte sich ihr zu. Seine hellen Augen blickten aufmerksam in die ihren.
„Ivan wird dich um sechs Uhr abholen, meine Liebe. Bis dahin …“ Er streckte einen vernarbten Finger aus und streichelte ihre Wange. Sie musste all ihre Selbstkontrolle aufbringen, um nicht zurückzuzucken. Er ließ die Hand sinken, zog seine Handschuhe an und sah sich nach seinem Hut um. Charity holte ihn und gab ihn ihm. Der Wollfilz war dick und von hervorragender Qualität. Er setzte seinen Hut auf, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
„Ich sehe dich heute Abend, dushka .“ Seine behandschuhte Hand griff nach ihrer, und er beugte sich über sie. „ À bientôt, chérie .“
Charity zog ihre Hand zurück und griff um ihn herum, um den Türgriff zu drehen, eine Sache, die ihm schwerfallen würde. „Auf Wiedersehen, Wassily.“
Er bewegte sich schmerzhaft langsam. Aus Höflichkeit wartete Charity in der offenen Tür und fror. Die eisige Morgenluft griff mit schmerzhaften Eisfingern nach ihr, und die Kälte fuhr ihr in die Knochen. Sie steckte ihre Hände unter die Achseln in dem vergeblichen Versuch, etwas Wärme in ihrem Körper zu halten.
Nur wenig Licht drang durch die schiefergraue Wolkendecke. Es war beinahe zu kalt für Schnee. Einige winzige gefrorene Flöckchen wollten sich auf der Erde niederlassen, aber der Wind wirbelte sie wild herum, kaum dass sie den Boden berührt hatten. Gefrorener Schnee prickelte auf Charitys Wange, während sie ungeduldig darauf wartete, dass Wassily endlich weg war.
Schließlich übertrat er die Schwelle und ging stockend auf Ivan zu, der mit ausgestrecktem Arm an der Treppe auf ihn wartete. Sobald Wassily sich sicher in der Obhut seines Fahrers befand, beeilte sie sich, die Tür hinter ihm zu schließen. Sie schaffte es in ihrer Eile gerade noch, sie nicht zuzuschlagen. Als sie das Klicken des Riegels hörte, ließ sie sich mit geschlossenen Augen gegen die Tür sinken, keuchend, vollkommen erschöpft.
Wieder allein. Gott sei Dank.
Nach einiger Zeit hörte sie das satte Geräusch einer teuren Autotür, die sich schloss, und das tiefe Schnurren eines kraftvollen Motors. Sie sah durch das Wohnzimmerfenster zu, wie die Limousine wegfuhr. Die Scheiben des Wagens waren getönt, aber sie meinte zu sehen, wie Wassily sein helles Gesicht gegen die Scheibe presste – und sie ansah.
Oh Gott. Was hatte sie getan?
Charity zog die Wohnzimmervorhänge zu – sie hatte genug von der Außenwelt –, stellte die Teegläser, die Teekanne und die Konfitüre auf ein Tablett und trug es in die Küche. Sie fühlte sich so schwach, dass das Tablett in ihren Händen zitterte und die Teegläser aneinanderschlugen. Der kurze Moment, in dem sie in der offenen Tür gestanden hatte, hatte selbst das kleinste bisschen Wärme aus ihrem Inneren herausgesaugt, zusammen mit aller Kraft, an die sie sich noch geklammert hatte.
Sie lehnte sich gegen die Spüle und schlang die Arme um ihren Leib. Diese markerschütternde Kälte fühlte sich an, als wären ihre Eingeweide selbst aus Eis. Sie war vollkommen am Ende, schien nur noch auf Knochen reduziert zu sein, die von Haut zusammengehalten wurden – lediglich ein Schritt von ihrem eigenen Grab entfernt.
Das Zittern wurde stärker. Wieder stieg ihr die Galle hoch, und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wusste nicht, ob sie versuchen sollte, es bis ins Badezimmer zu schaffen, oder einfach auf dem Boden zusammenbrechen und sich hier übergeben sollte.
Mühsam schluckte sie die Übelkeit, die ihr die Speiseröhre hinaufkroch, wieder herunter und wartete darauf, dass ihr Magen sich beruhigte. Sie drückte die Knie durch.
Du wirst dich nicht übergeben ,
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