Gefährliches Talent: Kriminalroman
vollkommen unvoreingenommen zu beurteilen. Jedenfalls hatte sie das vor.
Sie sagten einem der Assistenten, dass sie mit Liz verabredet waren, und er führte sie zu einer Tür im hinteren Bereich der Galerie. Er klopfte zweimal und stieß die Tür auf. Alix stach sofort das Bild ins Auge, das auf einer Staffelei seitlich an der Wand stand – das für Chris bestimmte O’Keeffe-Gemälde. Liz saß an ihrem Schreibtisch und unterhielt sich mit einem dunkelhaarigen Mann, der mit dem Rücken zu ihnen saß. Auf dem Schreibtisch standen zwei halb leere Champagnergläser, eins davon mit Lippenstift verschmiert.
Mein Gott
, dachte Alix,
die Frau scheint nur von Alkohol zu leben.
Liz, die sich bequem auf ihrem braunen Lederstuhl zurückgelehnt hatte, setzte sich abrupt auf und starrte die beiden an. »Was machen
Sie
denn hier?«
»Es ist halb fünf«, sagte Chris. »Wir wollten uns doch das Bild ansehen. Aber wie’s aussieht, kommen wir ungelegen …«
»Ach was, ist es wirklich schon halb fünf?« Perplex und mit leicht getrübtem Blick sah sie auf ihre Uhr. »Mein Gott, tatsächlich! Ich muss … ich meine … Ach Gott, es tut mir leid …«
»Ich fürchte, das ist meine Schuld.« Höflich stand der Mann auf. Alix’ spontane Reaktion war:
Kleiderständer
. Seine Kleidung war sportlich-elegant, aber mit Bedacht ausgewählt. Dieser Mensch zog sich nicht wahllos irgendwelche Klamotten über, er plante sein Outfit und brauchte wahrscheinlich eine Stunde, um sich zwischen goldenen und silbernen Manschettenknöpfen zu entscheiden. Auch seinen Haarschnitt hatte ihm nicht der Billigfrisör an der Ecke verpasst. Nein, vor ihr stand ein Mann, der viel Zeit auf sein Aussehen verwandte. Und eine Menge Geld. Zum zweiten Mal an diesem Tag traf Alix jemanden, den sie auf Anhieb unsympathisch fand, was eher untypisch für sie war. Vielleicht lages nur an ihrer Stimmung. Wenn man gerade nur knapp einer Explosion entronnen war, sah man die Welt sicher eine Zeit lang mit anderen Augen.
»Ich bin einfach ohne Termin bei Ms Coane reingeplatzt«, war seine schmierige, offensichtlich nicht ernst gemeinte Entschuldigung. »Ich weiß, ich hätte einen Termin für morgen machen sollen, aber die Gelegenheit …«
Während er redete, war Liz auch aufgestanden. »Nein, es ist meine Schuld. Ich habe einfach die Zeit vergessen. Das ist Roland …«
»Rollie«, korrigierte er sie.
»… Rollie de Beauvais, ein renommierter Kunsthändler aus Boston. Er hat gehofft, ich könnte ihm helfen, ein paar Sachen für seine Kunden zu finden. Er war übrigens ziemlich an deinem O’Keeffe-Bild interessiert, Chris, aber zu seinem Pech …«
»
Ihr
O’Keeffe-Bild?«, sagte de Beauvais zu Chris mit sichtlich wachsendem Interesse. »Also Sie sind die Glückliche. Gratulation, es ist ein außergewöhnliches Bild.«
»Ja«, sagte Chris zwar ein wenig schüchtern, aber ungewollt klang auch etwas Selbstzufriedenheit mit durch. »Ich bin in der Stadt, um es mir genau anzusehen. Oh, Verzeihung, ich bin Chris LeMay.« Sie streckte ihre Hand aus. »Aus Seattle.«
»Ach, sieh mal an«, sagte de Beauvais mit einem, wie Alix fand, besonders öligen Lächeln, als er Chris die Hand schüttelte. Zu Alix’ Verärgerung schmolz Chris regelrecht dahin.
Aha
, dachte der FBI-Agent,
also du bist die geheimnisvolle Käuferin. Dann ist deine Freundin hier wohl diese London.
Was für ein glücklicher Zufall. Die Sache wurde von Minute zu Minute interessanter.
Mit geschultem Blick schätzte er Alix in Sekundenschnelle ab und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Na ja, in
dem
Sinn gefiel sie ihm schon. Sie war sicher ganz attraktiv: hellbraunes Haar mitrötlichen Strähnchen, schön geschnitten, sodass es ihr hübsches Gesicht einrahmte; schlanke, sportliche Figur, schlichte, elegante Kleidung, einfacher Schmuck … Aber er mochte
sie
einfach nicht. Nicht dass sie ihm wie eine Betrügerin vorkam, was er eigentlich erwartet hatte, sondern ganz im Gegenteil. Sie sah aus wie das Mädchen von nebenan – wenn nebenan eine Zweieinhalbtausend-Quadratmeter-Villa am Strand von East Hampton bedeutete. Arrogant, herablassend, verwöhnt, eingebildet … All diese Eigenschaften standen ihr regelrecht in ihr makelloses Gesicht geschrieben. Alles an ihr – ihre Haltung, ihr Aussehen, ihre spürbare Selbstgefälligkeit – wies auf eine privilegierte Kindheit hin, die sie den Betrügereien ihres Vaters zu verdanken hatte.
Falls hier eine Gaunerei vor sich ging und sie
Weitere Kostenlose Bücher