Gefährliches Talent: Kriminalroman
lang für ihn. Sie war so sehr mit Georgia O’Keeffe und ihren Reisevorbereitungen beschäftigt gewesen, dass es ihr gar nicht aufgefallen war. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte bewusst jeden Gedanken an ihn verdrängt und beschlossen, später ernsthaft über alles nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen.
Hatte er aufgegeben? Hatte er ihr abweisendes Verhalten gegenüber Tiny als endgültige Aufforderung aufgefasst, sich zu verdünnisieren? Sie ein für alle Mal in Ruhe zu lassen? Sie wusste zwar nicht, was sie wollte, aber jedenfalls wollte sie nicht, dass mit diesem fürchterlichen Telefongespräch der Kontakt zwischen ihnen abbrach.
Sie löste sich aus der Fußgängermasse und setzt sich auf eine Lehmmauer, klappte ihr Handy auf und wollte gerade mit zitternden Fingern seine Nummer wählen, da hielt sie plötzlich inne. Sie konnte ihn nicht anrufen. Sie hatte seine Nummer gar nicht. Seine Adresse hatte sie auch nicht. Sich beides aufzuschreiben, hätte ihrer Ansicht nach bedeutet, ihm eine Tür zu öffnen. Damit hätte sie zugestanden, dass irgendwann in Zukunft wieder eine Beziehung zwischen ihnen möglich war.
Sie blieb erst mal sitzen, in einem Morast widersprüchlicher Gefühle. War sie enttäuscht oder erleichtert, dass sie nicht anrufen konnte? Sie wusste es wirklich nicht. Das Ganze war wie ein Gefühlskrampf, ein Anfall, eine Nostalgieattacke, ausgelöst vom Anblick des Vaters mit seiner Tochter. Aber mittlerweile waren die beiden schon einen Block entfernt, außer Sicht- und Hörweite. Sie konnte regelrecht fühlen, wie sich wieder Kälte um ihr Herz legte, und sie war dankbar dafür. Die alten Zeiten waren zwar wunderbar gewesen –
er
war wunderbar gewesen, das ließ sich nicht abstreiten.Aber all die märchenhaften Kindheitserinnerungen verblassten gegenüber der Tatsache, dass er alles riskiert hatte – seinen mühsam erkämpften Ruf, seine Freiheit und das Wohl seiner Tochter – und sein seltenes, gottgegebenes Talent für Gaunereien missbraucht hatte. Er war schlicht und einfach ein Schwindler, ein Nassauer.
Vielleicht konnte sie das alles ja irgendwann einmal hinter sich lassen. Aber jetzt jedenfalls nicht. Noch nicht. Vielleicht auch nie.
Sie stand langsam auf, steckte ihr Handy weg und hatte das Gefühl, beinah einen Fehler begangen zu haben. Außerdem fühlte sie sich wie durch die Mangel gedreht. Ein Glas Wein mit Chris würde ihr jetzt doch ganz guttun.
KAPITEL 8
Bei dem Glas Wein blieb es nicht. Dazu kamen noch eine Tasse Kaffee und zwei von den Tapas, die Chris ihr wärmstens empfahl: Chorizo mit Feigenaioli und marokkanisch gewürzte Schweinefleischspieße. Als sie beim Kaffee saßen, kam Alix ein seltsamer Gedanke.
»Chris«, sagte sie zögernd, »als wir in Liz’ Büro kamen, wissen Sie noch, was sie da gesagt hat?«
»Ja, sie hat gesagt, sie sei überrascht, uns zu sehen.«
»Nein, sie hat gesagt: ›Was machen Sie denn hier?‹«
Chris runzelte die Stirn. Sie begriff offensichtlich nicht, worauf Alix hinauswollte.
»Ist das nicht das Gleiche?«
»Nicht so ganz. Wen hat sie mit der Frage gemeint?«
»Was soll diese Frage? Uns natürlich. Alix, worauf wollen Sie …«
Alix schüttelte den Kopf. »Nein. Mir ist gerade bewusst geworden, dass sie mir dabei direkt ins Gesicht gesehen hat. Außerdem hat Ihre alte Freundin ›Sie‹ gesagt. Was machen
Sie
denn hier?«
»In Ordnung, und worauf wollen Sie hinaus?«
Nachdenklich spielte Alix mit ihrer Kaffeetasse und dann sagte sie: »Ich glaube, sie war vor allem überrascht, mich zu sehen, nicht uns beide.«
Chris verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Alix, ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»War sie etwa überrascht, mich zu sehen«, sagte Alix, »weil sie dachte, ich wäre tot?«
Es dauerte eine Weile, bis Chris begriff, und dann sah sie sie überrascht an. »Sie glauben, die Explosion … Sie glauben, Liz … Sie glauben, sie hat versucht, Sie in die Luft zu jagen?« Bei den letzten Worten stieg ihre Stimme um eine Oktave.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, aber vielleicht wollte sie mich mit Propangas vergiften, nur dass das Gasleck größer war, als sie dachte, und es zu einer Explosion kam.«
Chris machte große Augen. »Sind Sie übergeschnappt? Sie soll versucht haben, Sie umzubringen? Warum denn?«
»Damit ich mir das Bild nicht ansehen kann?«, sagte Alix in einem fragenden Ton, denn der Gedanke kam ihr mittlerweile auch lächerlich vor. »Weil das Bild gefälscht
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