Gefaehrten der Finsternis
brauchst du auch keine Wache zu übernehmen«, fügte Dalman hinzu.
Doch Lyannen schüttelte den Kopf. »Das ist sehr freundlich von euch, aber nein, vielen Dank. Ich möchte lieber neben meinem Bruder wachen. Ich könnte sowieso nicht schlafen.«
»Hör mal, Lyannen, wenn du möchtest, dass auch wir heute Nacht bei ihm wachen, brauchst du es nur zu sagen«, ergänzte Elfhall.
Lyannen war gerührt. »Danke, Jungs. Ihr seid die besten Freunde, die man sich nur wünschen kann.«
»Aber gern«, sagte Validen leise und zwang sich zu einem Lächeln.
Lyannen saß den ganzen Tag über zusammengekauert neben seinem Bruder. Niemand brachte es über sich, ihm zu raten, er solle sich ein wenig ausruhen, alle ließen ihn lieber in Ruhe. Sie holten ihn auch nicht, als sie ein provisorisches Lager errichteten, um Holz zu schlagen oder am Fluss Wasser zu holen. Sie baten ihn nicht einmal, Elfhall zu helfen, Feuer zu machen, obwohl der den Feuerstein und den Zunder während des Kampfes
verloren hatte und sich jetzt mit zwei durchnässten Holzstückchen behelfen musste, mit denen er das Feuer wohl nicht einmal in einer Woche anzünden konnte. Und sie baten Lyannen auch nicht, ihnen bei der Zubereitung eines Mahls zu helfen oder Wachen zu übernehmen. Um die Mittagszeit brachte ihm Drymn etwas von den Vorräten und die Flasche Ambrion, doch Lyannen lehnte wortlos ab. Er gab Drymn nur ein Zeichen, er solle alles wieder mitnehmen, da er nichts wolle. Dann beugte er sich wieder über seinen Bruder und hielt dessen kraftlose Hände.
Als es Abend wurde, meinte Dalman, man müsse Lyannen unbedingt dazu bringen, etwas zu essen. Er hatte den ganzen Tag nichts zu sich genommen, nicht einmal einen Schluck Wasser. Wenn er so weitermachte, riskierte er, gemeinsam mit seinem Bruder zu sterben. Außerdem brauchten sie sich an diesem Abend ihr Essen nicht einzuteilen, denn sie hatten so viele Kartoffeln ausgegraben, dass ein ganzes Bataillon davon satt geworden wäre. Drymn hatte ihnen vorausschauend geraten, sie sollten so viel wie möglich davon einpacken, aber dennoch waren mehr als genug übrig geblieben. »Lyannen braucht jetzt etwas zu essen«, sagte Dalman abschließend. »Ich verstehe ja seinen Schmerz, aber deswegen kann er doch nicht sein Leben wegwerfen. Er muss sich eben damit abfinden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Ventel diese Nacht übersteht, in seinem Zustand. Man darf sich keine falschen Hoffnungen machen.«
»Na gut, ich werde Lyannen etwas zu essen bringen«, entschied Elfhall seufzend. »Aber ich habe nicht die Absicht, ihm zu erzählen, wie es wirklich um Ventel steht. Auch ich habe einen Bruder verloren, und ich weiß, wie furchtbar das ist. Lassen wir ihm seine Hoffnung so lange wie möglich.« Er sah zum Himmel auf. »Vielleicht hat ja einer der Götter ein wenig Mitleid mit ihm.«
Drymn reichte Elfhall einen kleinen Teller und zwei Wasserflaschen.
»Geröstete Kartoffeln«, sagte er. »Wasser und ein wenig Ambrion, wenn er möchte.Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen, in Ordnung? Er muss etwas essen.«
Elfhall nickte schweigend und nahm Teller wie Wasserflaschen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es nicht leicht werden würde, Lyannen zu überreden. Er selbst hatte damals vier Tage lang nichts angerührt, bis seine Kräfte erschöpft waren. Und dass er in den vier Tagen etwas getrunken hatte, lag nur daran, dass man ihn dazu gezwungen hatte. Er hatte keineswegs die Absicht, Lyannen zum Essen zu zwingen, wenn der ablehnte.
Schweigend hockte er sich neben Lyannen. Der kauerte auf der Erde, beugte sich immer noch über seinen Bruder, hatte ihm eine Hand auf die Stirn gelegt und hielt die Augen geschlossen. Seine blassen Wangen waren von Tränenspuren überzogen und die Hand auf Ventels Stirn zitterte. Elfhall fühlte sich plötzlich von einer Woge des Mitleids überflutet. Es war ihm geradezu peinlich, dieses Schweigen zu brechen, doch er musste es tun. Es war ihre Pflicht, Lyannen in dieser qualvollen Lage beizustehen.
»Lyannen?«, fragte er leise und klopfte ihm mit den Fingerknöcheln auf die Schulter. »Lyannen?«
Der zuckte zusammen und wandte sich zu ihm um. Dabei riss er die Augen weit auf und zog seine Hand von Ventel zurück. »Elfhall«, murmelte er. »Ach, du bist es. Du hast mich erschreckt.«
»Entschuldige.« Elfhall blickte zu Boden und biss sich auf die Unterlippe. »Das wollte ich nicht.«
»Lass nur.« Erst jetzt schien Lyannen die Dinge zu bemerken, die Elfhall ihm gebracht hatte.
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