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Gefaehrten der Finsternis

Titel: Gefaehrten der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chiara Strazzulla
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lassen und noch weiter, was auch immer sich dahinter befand. Er fühlte gar nichts mehr, nicht einmal Angst oder Neugier. Er würde sich dorthin treiben lassen, nicht weil er es selbst wollte, sondern weil es sein musste. Und wenn es notwendig war, würde er auch akzeptieren, dass er nicht mehr von dort wiederkehren konnte.
    Jetzt schmerzte seine Wunde nicht mehr.Ventel war sich gerade noch bewusst, dass er einmal einen Körper besessen hatte, aber er war sich überhaupt nicht sicher, ob das jetzt noch so war. Vielleicht hatte er ihn ja auch schon zusammen mit den Geräuschen und allem übrigen zurückgelassen? Was kümmerte es ihn außerdem, was mit seinem Körper geschehen war? Den brauchte
er jetzt nicht mehr. Nichts zählte mehr, außer dem Sog, der ihn immer weit weg zog, an einen namenlosen Ort, hinein in die tiefe Stille.
    Dann störte etwas die Ruhe. Ein Laut, der nur einen Augenblick lang zu vernehmen war, leise wie das Geräusch eines unterdrückten Atems, so zart und fern, das man ihn kaum wahrnehmen konnte. Doch der Laut genügte, dass Ventels Verstand einen Halt fand, um sich nicht weiter forttragen zu lassen.
    Es war, als wäre irgendwo in ihm sein Bewusstsein wieder erwacht. Plötzlich erkannte er, dass um ihn herum noch etwas Körperliches, Greifbares existierte, es musste da sein, wenn es in der Lage war, einen Laut von sich zu geben. Ganz allmählich begann sein Kopf wieder zu arbeiten. Er dachte über diesen Laut nach, fragte sich, woher er kommen könnte und was ihn verursacht haben mochte. Und während er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er noch lebte, noch atmete, dass sein Herz noch schlug, dass er einen Körper besaß und ein denkendes Hirn und außerdem eine Wunde, die ihm zwischen den Rippen brannte. Dieser körperliche Schmerz holte ihn ganz in die Wirklichkeit zurück. Er spürte, wie der Sog, der ihn bisher mit sich fortgerissen hatte, nachließ und ihn nicht mehr weiterzog. Nun war alles um ihn wieder regungslos und still, doch es war eine Stille voller gespannter Erwartung. Mühsam, beinahe ängstlich versuchte Ventel, die Finger einer Hand zu bewegen. Als ihm das gelang, wusste er, dass er sich endlich wieder selbst in der Gewalt hatte, dass er es geschafft hatte, sich nicht zu verlieren. Er wusste, dass er auf einer festen Unterlage stand und sich mit der Kraft seiner eigenen Beine aufrecht hielt, denn jetzt wusste er auch wieder, dass er zwei Beine besaß.
    Dann öffnete er die Augen. Er erwartete beinahe, von einem gleißenden Licht geblendet zu werden - einem Licht, wie er es sich immer für das Jenseits vorgestellt hatte. Doch so war es nicht. Der Ort, an dem er sich befand, wo auch immer er
sein mochte, lag im Zwielicht und wirkte ganz real, von einer geradezu erdrückenden Körperlichkeit: ein großer Raum mit dicken grauen, völlig schmucklosen Wänden, mit einer niedrigen, bedrohlich wirkenden Decke in dem gleichen Bleigrau. Und ohne Fenster, sodass man nicht begriff, woher das spärliche Licht stammte.
    Im ganzen Raum gab es kein einziges Anzeichen von Leben. Ventel spürte, dass er nur hinaus wollte, ins Freie, was auch immer da draußen sein mochte, doch es gab keine Türen. Er fragte sich, wie er hier hineingekommen war, und überlegte mit wachsender Angst, wie er es schaffen sollte, den Raum je wieder zu verlassen. Er trat an die Wand heran und fuhr mit der Hand darüber. Sie war fest, aus kaltem, hartem Stein. Jetzt schmerzte seine Wunde wie nie zuvor. Er berührte sie, und sie brannte so stark und so plötzlich, dass er ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Als er die Hand zurückzog, bemerkte er Blut an seinen Fingern. Und während er mit weit aufgerissenen Augen die hellroten Flecke auf seiner Hand anstarrte und ihm zum ersten Mal bewusst wurde, dass er in diesem Augenblick und in seinem Zustand eigentlich nicht mehr am Leben sein konnte, hörte er hinter sich wieder den Laut, der ihn aus seiner Erstarrung gerissen hatte. Diesmal so kräftig und deutlich, dass er ihn als leises, mühsames und abgehacktes Atmen erkannte.
    Er sah sich um, und nun bemerkte er, dass er in dem großen grauen Raum nicht allein war. Ganz in seiner Nähe lag eine erschöpft wirkende Gestalt in sich zusammengesunken. Sie schien sich ungeheuer anzustrengen, um sich auf alle viere zu erheben, ohne mit dem Gesicht wieder nach unten auf den Boden zu fallen. Ihre Hände waren weiß und wirkten zart und elegant, obwohl sie schmutzig waren und abgebrochene Nägel hatten, und ihre

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