Gefährtin Der Finsternis
und gebogen war wie ein Falkenschnabel, war noch deutlich erkennbar.
»Seid gegrüßt, Joseph«, sagte sie und zwickte die Gestalt ungeachtet des Schmutzes. Als Kind hatte sie diese Figur stundenlang betrachtet, hatte sich mit dem schon lange verstorbenen Geistlichen unterhalten, während ihr Vater in seinem Arbeitszimmer auf der anderen Seite der geöffneten Tür beschäftigt war. »Hast du mir nichts zu sagen?« Sie nahm einen Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn ins Schloss. »Ich brauche, ehrlich gesagt, deinen Rat.« Mit beiden Händen konnte sie den Schlüssel schließlich unter knirschendem Kreischen im Schloss drehen. »Ich fürchte, wir könnten verloren sein, wir beide.« Sie schob die Tür mit der Schulter auf und erschauderte leicht, als eine Spinne ihren Arm hinab und dann wieder in das Netz unmittelbar über der Tür zurücklief. Die Tür öffnete sich quietschend und offenbarte das Arbeitszimmer ihres Vaters, das einst ihr Lieblingsraum im Schloss, aber während der vergangenen zehn Jahre verwaist gewesen war. Es war noch immer so sauber und ordentlich wie eh und je, als hätte ihr Vater es gerade in diesem Moment und nur für die Nacht verlassen. Steinerne Truhen standen an den Wänden aufgereiht, die mit zu schweren Deckeln verschlossen waren, als dass Isabel sie hätte anheben können, aber sie wusste, was sich darin befand. Sie hatte die uralten Pergamente viele Male gesehen, war mit einem Finger die Seiten hinabgefahren, hatte die Schrift in einer Sprache betrachtet, die kein lebender Mensch mehr lesen konnte. Der Schreibtisch ihres Vaters war jedoch mit neueren Schriftrollen bedeckt, jede ordentlich mit einem Band verschnürt, und eine Kerze stand bereit, um angezündet zu werden.
Ihr Vater hatte das Schloss entdeckt, als er die Vierzig bereits weit überschritten hatte. Der zerstörte Bergfried auf einer überwachsenen, scheinbar verlassenen Insel war dem Ritter, der des Kampfes müde war, wie das Paradies auf Erden erschienen. Er hatte auf dem alten Gemäuer eine ordentliche Festung mit Graben und Burghof errichtet und sich eine Frau aus einem der nahe gelegenen Dörfer genommen, ein siebzehnjähriges Mädchen mit den roten Haaren und den grünen Augen einer Keltin. Niemand hatte erwartet, dass aus ihrer Verbindung ein Kind hervorgehen würde, am allerwenigsten Sir Gabriel selbst. Er wollte an seinem Lebensabend nur Bequemlichkeit und dass eine geistreiche Gefährtin mit gesundem Menschenverstand seine Zufluchtsstätte mit ihm teilte.
Aber gegen Ende ihres ersten gemeinsamen Jahres, unmittelbar nachdem sein Schloss schließlich vollendet war, wurde seine hübsche, junge Frau schwanger. Neun Monate später wurde Isabel geboren, seine kleine, rothaarige Tochter, und seine Frau starb.
»Es muss hier doch etwas geben«, murmelte die erwachsene Isabel, zündete eine zweite Kerze an und ließ sich im Sessel ihres Vaters nieder. Sie griff nach Strohhalmen, das wusste sie, klammerte sich in ihrer Angst verzweifelt an Phantome. Aber ihr fiel nichts Besseres ein. Sir Gabriel hatte alle Texte in diesen Truhen erforscht, und sie wusste, dass er die Sprache der Druiden lesen gelernt hatte, die die Texte dort zuerst versteckt hatten. Sie hatte immer vermutet, dass er sogar ein wenig ihrer Magie beherrschte, obwohl er das niemals zugegeben hätte. Aber er hatte ihr häufig wundersame Geschichten erzählt, die er in den alten Schriftrollen gelesen hatte, Geschichten, die vermuten ließen, dass er mehr gewusst hatte, als er zuzugeben bereit war. »Ich brauche einen Zauber, Papa«, sagte sie jetzt, während sie eine der Schriftrollen nahm, die ihren Augen zu seinen Lebzeiten vorenthalten geblieben waren. »Etwas, das Charmot retten kann.« Sie benutzte das Band der Schriftrolle, um ihr Haar zurückzubinden, und entrollte sie dann auf dem Schreibtisch.
Es gibt keine Magie, Bella, konnte sie ihn fast antworten hören, dasselbe, was er immer gesagt hatte. Keine Magie, sondern Gottes Gnade.
»Wo ist Gottes Gnade jetzt, Papa?«, fragte sie in den Raum hinein, während ihr Blick die Seite absuchte. »Wo war Er, als du starbst?« Sir Gabriel hatte seine Festung Charmot siebzehn Jahre lang auf eigene Kosten unterhalten, ohne wie auch immer geartete Hilfe seines Königs. Aber noch bevor sein Körper im Grab erkaltete, hatte der König sie schon für sich beansprucht. Seine Majestät war über Isabels Erbe benachrichtigt worden und sandte einen königlichen Boten.
»Macht Euch bereit, Mylady«, hatte dieser
Weitere Kostenlose Bücher