Gefaelschtes Gedaechtnis
Ufer des Potomac entlang zu der Flussbiegung führt, wo George Washington sein Landgut Mount Vernon errichtete. Parallel zur Straße verläuft ein stark benutzter Fuß- und Radweg, und immer wieder gibt es Parks, Jachthäfen und Picknickplätze. Bei schönem Wetter herrscht auf und am Fluss reges Treiben.
Aber das Wetter war nicht schön, und es war auch nicht helllichter Tag, sodass sie das Ufer ganz für sich allein hatten. Der Mond, verschwommen und undeutlich hinter der Wolkendecke, spendete etwas Licht, aber sie hatten auch starke Taschenlampen mitgebracht. Bald hatten sie das Boot vom Dachgepäckträger geholt und startklar gemacht. Sowie sie es in einer geschützten kleinen Bucht zu Wasser gelassen hatten, setzte Adrienne mit frierenden Fingern die Votivkerzen in die Glasschälchen, die sie auf dem Boot befestigt hatte, eins vorn, eins achtern, wegen des Gleichgewichts. Dann stellte sie das Gefäß mit Nikkis Asche in die Mitte des Bootes, wo sich eine passende Vertiefung befand. Als Letztes kamen die Blumen, Rosen, Narzissen und Lilien, die sie rundherum arrangierte.
Und dann war es soweit: Nikki konnte auf ihre letzte große Fahrt gehen. Adrienne zündete die Kerzen an, und Lew lenkte das Boot per Fernsteuerung aus der Bucht hinaus. Eine Brise erfasste die Segel, und das Boot legte sich auf die Seite, bis Lew es wieder stabilisierte. Adrienne hatte Sorge gehabt, das Boot könne wegen des Gewichts der Kerzen und der Asche schwer zu steuern sein, aber es schien ihm nichts auszumachen. Die Votivlichter strahlten und flackerten, beleuchteten die weißen Segel wunderschön, während das Boot hinaus zur Mitte des Flusses glitt. Schließlich stellte Lew die Segel so ein, dass das Boot vor dem Wind fuhr.
» Bon voyage «, flüsterte Adrienne, die Hand zum Abschied erhoben.
Lew verstaute die Fernsteuerung wieder in dem Transportkoffer und legte den Arm um Adrienne. Jetzt hatten nur noch Wind und Wasser das Sagen. Das Boot hatte gut Fahrt genommen, und schon Minuten später konnten sie den Rumpf oder die Kerzen nicht mehr sehen, nur ab und zu das gespenstische Weiß der Segel, wenn das Boot von einer Welle hochgehoben wurde, um gleich wieder hinabzusinken. So standen sie in der eisigen Dunkelheit am Ufer des Flusses und schauten dem Segel nach, wie es schimmernd auf schwarzem Wasser dem Meer entgegentrieb.
Bis es verschwunden war.
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