Gefaelschtes Gedaechtnis
wollte die Gefühle ihrer Vermieterin nicht verletzen, also ließ sie diese Geschmacksverirrung hängen. Vielleicht wurde das Ding ja mal gestohlen, wenn sie Glück hatte.
In Wahrheit konnte nichts diesen >Luftschutzraum< (wie ihre Freunde in Georgetown ihn nannten) verschönern. Aber die Wohnung war preiswert und sauber und, was noch wichtiger war, sie gehörte nur ihr allein. Also war sie dankbar, sie zu haben, auch wenn sie ein bisschen muffig war.
Und dunkel. Und nicht sehr groß.
Zu Hause angekommen, warf sie Mantel und Aktentasche auf die Couch und stieß einen Seufzer aus, als sie die braune Tragetüte mit Nikkis Asche darin in der Ecke stehen sah. Ich könnte sie wenigstens auspacken, dachte sie. Sie zog die kleine Holzkiste aus der Tüte, nahm die Urne heraus und wusste dann nicht, wohin damit. Schließlich stellte sie sie in das Bücherregal gleich neben der Tür. Danach streifte sie die Schuhe ab und ging in die Küche, wo ihr Gefühl von Einsamkeit und Verlassensein noch stärker wurde, als sie Jacks leeren Fressnapf auf dem Boden neben dem Kühlschrank stehen sah.
Jack war zwar nur kurz bei ihr gewesen, aber sie vermisste ihn trotzdem. Ihm ging es bestimmt besser bei Ramon, aber ihr war es besser gegangen, als er bei ihr war — weil er sie zum Lachen brachte und sie ablenkte.
Zum Beispiel von der Frage ... was mit Nikkis Asche geschehen sollte. Sie musste sich von ihrer Schwester mit irgendeiner Zeremonie verabschieden. Etwas Privates — bloß sie und Nikki —, etwas mit Wind und Wasser.
Aber nicht heute Abend.
Sie ging ins Schlafzimmer, zog sich ihren Pyjama an und suchte aus, was sie am nächsten Tag anziehen würde. Dann stieg sie ins Bett und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher an. Nichts. Nada. Aber sie konnte noch nicht schlafen. Sie war noch zu aufgekratzt von den drei Tassen Kaffee, die sie bei der Arbeit getrunken hatte, und von dem Espresso nach dem Abendessen mit Slough.
Also nahm sie ein Buch vom Nachttisch. Martin Amis' »Night Train«. Es war ein dünnes Buch, aber sie las schon seit Wochen daran. Vielleicht schaffte sie es heute Abend zu Ende. Aber nein. Es ging nur um Selbstmord.
Eine Polizistin, eine Freundin der Familie, suchte nach dem geheimen Grund für den Selbstmord einer Frau. Und es stellte sich heraus, es gab einfach keinen Grund. Die Wahrheit war, dass diese Frau trotz ihrer interessanten Arbeit und liebevollen Familie das Leben nicht lebenswert fand. War das so schrecklich?
Und wie war das mit Nikki? Was war ihr Motiv? Hatten Unglücks- und Schuldgefühle sie in den Tod getrieben, gefördert durch das Szenario von satanistischen Missbrauchspraktiken, das ihr verrückter Therapeut ihr eingeredet hatte? Oder hatte sie irgendwie eingesehen, dass sie nicht sie selbst war und es nie wieder sein würde, dass Europa sie tief in ihrem Innern zerbrochen hatte? Oder war es etwas anderes, das sie veranlasst hatte, den Heizofen in die Wanne zu stoßen? Hatte es mit diesem absurden Gewehr zu tun? Woher hatte sie das? Wusste sie überhaupt, wie man damit umging? Adrienne bezweifelte es, aber ... ihr kam der Gedanke, dass ihre Schwester sich umgebracht hatte, um zu verhindern, dass sie etwas noch Schlimmeres tat.
Was zum Beispiel?, überlegte Adrienne. Nun ja, sie hatte ein Gewehr. Vielleicht hätte sie Menschen getötet. Vielleicht hätte sie viele Menschen getötet — wie diese Kinder in Colorado. Vielleicht war sie so unglücklich und so voller Zorn auf die Welt, dass sie von einem Amoklauf träumte. Und war dann doch so entsetzt von ihren eigenen Wahnvorstellungen, dass sie stattdessen sich selbst tötete.
Sie nahm »Die göttlichen Geheimnisse der Ya-Ya-Schwestern« zur Hand. Es schien wesentlich sicherer als »Night Train«, und allmählich fühlte sie sich schon zu müde zum Lesen.
Aber sie wurde die Gedanken an Nikki nicht los. Die Sache war die ... Bonilla hatte Recht. Sie wusste wirklich nicht viel über ihre Schwester. Sie wusste nicht, was sie bewegt hatte. Sie war ein Geheimnis gewesen.
Wenn doch nur die letzten Kapitel ihrer Beziehung nicht so freudlos gewesen wären. Selbst an dem Abend von Nikkis Tod war Adrienne insgeheim froh gewesen, als ihre Schwester nicht aufmachte. Sie hatte gedacht: Prima — sie ist unterwegs, sie hat das Abendessen vergessen. Dabei war sie da schon tot.
Ihre gemeinsamen Essen waren alles gewesen, was von ihrer Beziehung übrig geblieben war - und selbst diese wenigen Stunden waren von Nikkis widerwärtigen Fantasien von
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