Gefaelschtes Gedaechtnis
satanistischem Missbrauch vergiftet worden. Sie hatte über nichts anderes mehr reden wollen - wie getrieben, als müsste sie immer und immer wieder davon anfangen. Und jedes Mal hatte es im Streit geendet, weil Nikki behauptete, Adrienne würde alles verdrängen. Du erinnerst dich nicht daran, weil du dich nicht erinnern willst. Das ist ganz typisch!
Aber sie irrte sich. Adrienne hatte es nie, nicht mal eine Sekunde lang, für möglich gehalten, dass Nikkis Erinnerungen real waren und ihre eigenen fragwürdig. Mit ihrem Gedächtnis war alles in Ordnung, und sie hatte ganz sicher nichts verdrängt. Ihre Erinnerungen waren klar und eindeutig. Sie hatte noch immer vor Augen, wie Deck sie hoch in die Luft schwang, damit sie auf seinen Schultern reiten konnte. >Auf geht's, Kleines, festhalten!< Er war mit ihr auf der Straße spazieren gegangen, und wenn sie wollte, hatte er sie an den Handgelenken gefasst und durch die Luft gewirbelt, bis ihr so schwindelig war, dass sie nicht mehr stehen konnte. Manchmal hatte er sie an den Händen festgehalten, sodass sie mit den Füßen an ihm hochlaufen und eine Rolle rückwärts machen konnte. Er hatte endlos lange mit ihr Memory und Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Und sie hatte auch noch immer Marlenas leise, sanfte Stimme im Ohr, wenn sie ihr Lieder vorsang und sie wiegte, weil sie nicht einschlafen konnte. »Schlaf, Kindchen, schlaf ... «
Waren das dieselben Menschen, die angeblich mit Kerzen und Kapuzen herumgeisterten und brutale Kinderpornos drehten? Wenn es nicht so entsetzlich gewesen wäre, hätte sie darüber lachen müssen.
Und doch, wegen Nikki hatte sie diese Erinnerungen so genau untersucht wie eine Staatsanwältin, hatte jede suggestive Episode hinterfragt. Wenn Marlena sagte, »Ich küss es, und dann ist es gleich besser ...«, war das etwas anderes? Und wenn Deck sie auf den Knien wippte und sang, »Hoppe hoppe Reiter ...«, war das bloß ein Spiel?
Ja, dachte sie, das war es. Bloß ein Spiel. Ganz gleich, wie haarklein sie diese Erinnerungen unter die Lupe nahm, sie blieben harmlos, Deck und Marlena unschuldig, ihre Zuneigung unverdorben. Und Adrienne war wütend auf Nikki (und damit auch auf Duran), weil sie gezwungen worden war, ihre Kindheit durch ein argwöhnisches Prisma zu betrachten. Es war ein Verrat an Deck und Marlena. Es war Verunglimpfung.
Sie wandte sich wieder dem Buch zu, boxte die Kissen hinter sich zurecht. Aber die Ya-Yas konnten ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln. Also schob sie ein Lesezeichen zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und schaltete das Licht aus. Schwestern, dachte sie, als ein Wagen die kleine Gasse entlangrumpelte und das Licht der Scheinwerfer die Wand hoch und über die Zimmerdecke glitt.
Vielleicht ist es an der Zeit, Duran zu vergessen. Soll die Polizei sich darum kümmern. Der Prozess gegen ihn ist wahrscheinlich reine Zeitverschwendung. Wer auch immer Duran ist — wirklich ist —, er wird nicht einfach abwarten, was passiert. Das Einzige, womit er rechnen kann, ist öffentliche Bloßstellung. Vermutlich ist er gerade dabei, seine Sachen zu packen.
Packen ...
Adrienne setzte sich abrupt auf und schaltete das Licht ein. Wenn er packte, würde er alles mitnehmen — Kleidung, Möbel und Akten. Auch die Akte ihrer Schwester. Oder er würde sie wegwerfen.
Sie wollte sie haben.
Und als nächste Angehörige hatte sie ein Recht darauf. Aber wenn sie die Akte brieflich oder telefonisch anforderte, würde Duran sie wahrscheinlich frisieren, bevor er sie herausgab. Also brauchte sie einen Vorwand, einen Grund, ihn zu besuchen, um ihm ihr Anliegen persönlich mitteilen zu können — in seinem Büro. Und sogleich fiel ihr einer ein.
Sie stieg aus dem Bett, holte ihren Filofax aus der Aktentasche, suchte Durans Nummer und wählte. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 0:15. Zu ihrer Verblüffung meldete er sich gleich nach dem ersten Klingeln. »Hallo?«
Das ist doch Wahnsinn, dachte sie. Das sieht ja aus wie Belästigung.
»Hallo?«, wiederholte Duran.
Sie wollte schon auflegen, doch dann kam ihr der Gedanke, dass ihre Nummer vermutlich in seinem Display angezeigt wurde — was die Sache nur verschlimmern würde. Anonyme Anrufe mitten in der Nacht. »Mr. Duran?«, fragte sie.
»Ja?«
»Adrienne Cope am Apparat.«
»Oh.«
»Tut mir Leid, falls ich Sie geweckt habe.«
»Nein, haben Sie nicht, ich hab — ich hab bloß ferngesehen. «
»Gut, ich werde es mir nicht zur Gewohnheit machen, noch so spät bei Ihnen
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