Gefallene Engel
es ebensogut möglich, daß man ab und zu auch hörte: »Wir sind nich aus Bergen, wir sind von Nordnes!«
Draußen auf Nordnes waren wir im Grunde mit allem versorgt. Es gab immer noch in den meisten Straßen einen Bäcker, einen Milchmann, ein Lebensmittelgeschäft und ein Fischgeschäft. Außerdem gab es Wäschereien, Schneider, Weinmonopole und Schuster, Ärzte und Zahnärzte, Fahrradgeschäfte und Trödler. Unten in der Strandgate konnte man alles kaufen, was das Herz begehrte, von Kleidung bis zu Spielsachen, von billigen Kaffeeservicen bis zu grellen Lämpchen, denn auf dieser Seite der Halbinsel legten die Boote aus den Fjorddistrikten an, was für die meisten ein blühendes Geschäft bedeutete. Wenn man sich selten einmal bis hinter Muren bewegte, das wie ein altertümliches Stadttor zwischen Nordnes und dem Rest der Stadt lag, dann war es, weil du sonntags in die Berge wolltest, ab und zu einmal ins Kino oder Theater, oder weil zum Arzt du mußtest, zur Polizei, zur Post (bevor die Filiale in Nordnes eröffnet wurde) oder zu anderen öffentlichen Instanzen. Die Mütter gingen schon mal auf den Markt, um frisches Gemüse zu kaufen oder lebenden Fisch, je nach Bedarf, aber das war trotz allem eher die Ausnahme als die Regel. Die meisten hielten sich an den Stadtteil, in den sie gepflanzt waren.
Von Nordnes aus hatte man eine weite Aussicht: hinüber nach Askøy und zum Sommerland draußen im Norden, nach Osten bis zum Skoltegrunnskai, nach Skuteviken und zu den weit entfernten Bergformationen in Sandviken und nach Westen quer über den Puddefjord nach Laksevåg, das außerhalb der Stadtgrenze lag und deshalb auf dem Lande war. Auf dem Fjord fuhren die Schiffe vorbei, und wir erkannten die meisten von ihnen am Klang und an den Schornsteinen. Es waren kleine, kompakte Schlepper mit Namen wie Titan und Vulkanus, da waren die Englandfähren Leda und Venus und die Stavangerfjord, Oslofjord und Bergenfjord der Amerikalinie, es waren die Hurtigrutenschiffe gen Norden, Lastschiffe mit Düften von fremden Häfen, wie Rio und Frisco, Havanna und Cadiz, da waren Fjordfähren und Lastkähne, und schließlich nicht zu vergessen die Fischkutter, bis zum Dollbord voller Hering in den großen Heringsjahren Mitte der 50er, als die ganze Stadt in einem Bratendunstnebel von Brathering lag und der stadtbekannte Zeichner Audun Hetland eine seiner berühmten Zeichnungen in Bergens Tidende auf S. 4 brachte, wo der Vater müde und kaputt von der Arbeit kommt, die Katze im Flur liegt und Heringsgräten abnagt, Muttern in der Küche steht und brät, und der typische Bergenser Rotzlümmel in der Tür steht, boshaft seinen Erzeuger anzwinkert und sagt: Na rat ma’, wasses heut zu essen gibt!
Aber Nordnes hatte auch Brandwunden aus dem Krieg. Große Teile im Osten der Halbinsel waren zerbombt und abgebrannt, und das große Explosionsunglück von 1944 warf noch bis weit in die 50er Jahre seine Schatten über den Stadtteil. Auf den Brandstellen, zwischen den übriggebliebenen Grundmauern aus rotweißem Ziegelstein, gab es unendlich viele Spielplätze für die Kleinsten. Hier führten wir gewaltige Indianerkriege, hier bauten wir Neusiedlerdörfer aus Verschalungsmaterial, das wir uns auf den vielen Baustellen holten, die nach und nach entstanden, und langsam aber sicher veränderte sich Nordnes von einem offenen Stück Land zu einer Großstadt aus Beton. Die Zivilisation zog in den Stadtteil ein, bald wurde der Automobilhandel freigegeben, und wir Kinder wurden sowieso langsam zu groß, um zu spielen.
In diesen Stadtteil kam ein kleines, vier Jahre altes Mädchen mit Hardangerdialekt, an einem Spätsommertag 1949. Ein Mädchen namens Rebecca.
Auf dem Bild auf der Treppe vor unserem Haus 1949-50 war sie klein und dünn, mit einer etwas widerspenstigen Mähne, in grauer Strickjacke mit dunklem Muster, rot-weiß gemustertem Kleid, weißen Kniestrümpfen, die Hände schützend um die Knie gelegt und einem etwas unsicheren, halb feierlichen Lächeln zu dem fremden Fotografen. Denn mein Vater, der Amateurfotograf, war ein fremder Vogel für die Kinder in der Straße. Niemand traute sich, schwarzzufahren, wenn er der Schaffner in der Straßenbahn war.
Wir waren Kinder in einer Zeit, die nie wiederkommen würde. Als wir so klein waren, gab es keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungs, und sogar Abita, die zwei Jahre älter war als wir und noch keine Brüste hatte, saß im Sand und buddelte mit uns.
Im Winter fuhren wir auf dem
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