Gefallene Engel
mit den Händen übers Gesicht strich und unendlich müde und kaputt aussah. Aber er hatte eine Aufgabe zu erfüllen und ein Leben zu leben. Und wenn das Leben hier unten vorbei war, brauchte er sich um nichts Sorgen zu machen. Da kam er nur nach Hause. Nach Hause zu Jesus.
An einem Novemberabend, als wir dreizehn waren, hatten Rebecca und ich uns beeilt, noch rechtzeitig zur Abendandacht zu kommen, wo ihr Vater reden sollte, aber wir waren zu spät erschienen, und statt hineinzugehen und uns auf eine der hintersten Bänke zu setzen, waren wir die Hintertreppe zur Empore hinaufgegangen. Einer Eingebung folgend waren wir dort oben auf dem Boden entlanggekrochen, zwischen den Stuhlreihen, von der Balkonfront verdeckt und einander so nah, daß unsere Schultern aneinanderstießen beim Kriechen. Ganz vorne waren wir auf dem Boden sitzen geblieben und hatten der Stimme Andreas Holmefjords gelauscht, ohne wirklich die Worte zu hören. Seine Stimme war wie Musik, wie eine Begleitung zu etwas, das wir selbst noch nicht erfassen konnten. Mein Blick hing an ihrem und ihrer an meinem. Ich hätte den Arm ausstrecken und sie berühren können, ihre Hand, ihren Mund, ihr Haar. Aber ich tat es nicht. Wir saßen nur da, in unbeholfener Verbundenheit, außerhalb von Zeit und Raum und plötzlich ganz allein miteinander.
Von unten herauf war plötzlich ein fesselnder Gesang ertönt: Heilig sind die Versprechen – Niemals wird er sie brechen – Nein, sie gelten ewig fort – besiegelt hat er jedes Wort – als er am Kreuz sein Blut vergoß. – Wie ein Engelschor toste es hinauf zur Deckenkuppel über uns: Himmel und Erde werden vergehn – Höhen und Berge werden verschwinden – aber wer da glaubt, wird finden: Die Versprechen bleiben bestehn!
Hinterher dachte ich oft, daß auch wir einander eine Art Versprechen gegeben hatten, da oben auf der Empore des Versammlungshauses, wo ihr Vater predigte, an diesem Novemberabend 1955.
Später gingen wir von der Empore herunter und nach draußen. Still, ohne etwas Wichtiges zu sagen, gingen wir nach Hause, die dunklen Straßen entlang nach Nordnes, durch eine Luft voll klammer Novemberkälte, mit roten Ohren und Fingern, die sehr tief in die Taschen tauchen mußten, um Wärme zu finden.
Vor dem Haus, in dem sie wohnte, hatten wir einander gute Nacht gesagt. Einen Augenblick lang hatten unsere Blicke sich wieder gefunden, und sie war auf dem Gehweg stehengeblieben, als hielte etwas sie zurück, aber dann war sie durch die Tür verschwunden. Ich ging nach Haus.
Ein halbes Jahr später zog sie mit ihrer Familie von Nordnes weg, in einen anderen, neueren Stadtteil. Und in einen anderen Stadtteil zu ziehen, bedeutete damals, aus unserem Leben zu verschwinden.
Aber Rebecca verschwand nicht. Nicht für immer. Sie kehrte zurück.
13
Ich schloß das Fotoalbum und legte die Vergangenheit wieder an ihren Platz in den Schrank. Dann duschte ich, wusch mir die Haare und zog mir saubere Sachen an. Ich ging in die Küche, setzte Kaffeewasser und Milchreis auf.
Während ich wartete, daß der Reis gar wurde, setzte ich mich ins Wohnzimmer. Ich holte das kleine Amateurfoto hervor, das Jakob mir geliehen hatte. Die leicht erkennbare Silhouette des Blåmanen hinter sich, saß Rebecca auf einem kleinen Felsen, umgeben von farbenprächtigem Septemberlaub und selbst in einem herbstfarbenen Wollpullover in braun, mit rotem und orangem Muster. Sie war es, und gleichzeitig war sie eine völlig andere. Ich hätte sie natürlich wiedererkannt, wenn ich sie auf der Straße getroffen hätte, aber die 45 Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Konturen des Gesichts waren schärfer, in ihrem Blick war etwas Ironisches, um den Mund lag ein Zug von Resignation, aber der Herbstwind blies in ihr Haar, und sie versuchte, es sich aus den Augen zu halten, mit einer schmalen, jungmädchenhaften Hand. Hinter ihr war der Himmel kalenderblau. Ein neues Blatt würde bald abgerissen.
Wieder schaute ein Jahr seine letzten Abhänge hinunter, in Richtung Dezember.
Ich legte das Foto vorsichtig weg, wie aus Angst, es könne sich in Rauch auflösen. Danach blätterte ich rastlos den Stapel mit Samstagszeitungen durch. Es war immer dasselbe. Was sie Neuigkeiten nannten, waren nur die alten Waren in neues Papier verpackt. Die lokale Fußballmannschaft setzte, Gott weiß zum wievielten Mal, auf einen Neuanfang, kaufte einen Haufen Spieler und hoffte, daß ihnen das helfen würde, in der 2. Liga den Kopf länger als eine Spielzeit
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