Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
hervor, murmelte so etwas wie, daß einer meiner Onkel sie da vergessen hatte, als er zuletzt das Boot geliehen hatte, machte sie auf und gab mir einen Schluck. Ohne viel mehr zu reden saßen wir da im Sommerabend und teilten eine Flasche Export. Erst da fühlte ich, daß ich wirklich erwachsen geworden war. – Im selben Herbst starb er, genauso plötzlich, wie er aufgehört hatte, zu rudern.
    Aber aus Nordnes gab es nicht viele Bilder. Das Fotografieren gehörte in die Ferien. Die Seiten waren voller Bilder aus den Sommerferien in Ryfylke, mit kleinen Abstechern nach Sunnfjord, einem Besuch in der Hauptstadt, immer gegen die Sonne blinzelnd, weil mein Vater, der Amateurfotograf, vorbildlich dafür sorgte, die Sonne im Rücken zu haben, so daß sein Schatten auf vielen Bildern wie eine diskrete Signatur in die untere Ecke kroch. Aus Nordnes gab es nur ein paar wenige Bilder – immer mit zu großem Abstand – von der Trollbodealmenning auf dem Gründungsjubiläum des Nordnes Bataillons am 3. Mai, aber vom großen 100jährigen Jubiläum gab es keine Bilder. Da war mein Vater, der Amateurfotograf, längst in die ewigen Dunkelkammern eingegangen, und ich selbst hatte noch keinen Apparat.
    Auf einem Bild saßen wir, eine Handvoll Kinder auf der Treppe vor unserem Haus. Es muß das letzte Bild auf einem Film gewesen sein, der voll werden sollte. Wir waren vielleicht sieben, acht Jahre alt, also mußte das Bild von 1949 oder ’50 sein.
    Da saßen wir. Ich in Knickerbockern, aus viel zu weiten Hosen genäht, Jan Petter mit soliden Wanderstiefeln und dicken, gemusterten Wollsocken, Paul mit einem lustigen Peter-Pan-Gesicht und in einer taillierten Windjacke, Pelle mit etwas zu langen Haaren in der Stirn und der Lupe des Vaters demonstrativ in der einen Hand (weil er sich damals das Ziel gesetzt hatte, einer der besten Privatdetektive der Welt zu werden) – und dann noch ein paar Mädchen. Da war Irene, Pelles Schwester und zwei Jahre jünger als er, mit geflochtenen Haaren, auf dem Kopf zusammengebunden. Da war Karen, dunkelhaarig und mollig, die später im Fischgeschäft enden sollte, zu lebenslänglichem Bergen verurteilt, weil sie nach und nach eine Gesichtsfarbe bekam, als sei sie auch aus feingemahlenem Fischpudding gemacht, die aber an dem Tag auf der Treppe vor dem Haus saß, weil sie in dem Jahr Irenes beste Freundin war. Und dann war da Rebecca.
    Obwohl ich nicht älter als vier gewesen sein kann, bilde ich mir immer noch ein, mich an den Tag zu erinnern, an dem Rebecca in die Straße zog. Oben im Nordnesvei hatte ein grüner Lastwagen gehalten, der mit alten Koffern, mit Tauen zusammengebundenen Pappkartons, Seesäcken und grauen, urnorwegischen Rucksäcken vollgeladen war: ein Umzug. Das Gerücht breitete sich durch die Gassen aus, und bald strömte alles, was an Kindern krabbeln und laufen konnte (und ein paar Erwachsene dazu) die Straße hinauf, um zu sehen, was da passierte.
    Eine kernige, rotblonde Frau in einem blauen Wollmantel, das Haar in einem Knoten im Nacken gebunden, und ein großer, magerer, dunkelhaariger Mann in grauem Anzug, mit einem weichen Hut auf dem Kopf, luden den Wagen ab, tatkräftig unterstützt vom Fahrer, einem kleinen, stämmigen Mann in verschlissenem Arbeitsoverall. – Habt ihr auch Kinner? traute sich einer der Mutigsten frei heraus zu fragen. – Die Frau nickte freundlich und zeigte uns mit den Fingern: drei.
    Erst ein paar Tage später tauchten die Kinder in der Straße auf. Das kleinste war ein Mädchen, und sie hieß Rebecca.
    Zu Anfang sprachen alle Kinder einen merkwürdigen Dialekt, und später erfuhren wir, daß sie aus dem Hardanger in die Stadt gezogen waren. Sie hießen Holmefjord, und Rebeccas Vater war in der Arbeitszeit Büromaschinenmechaniker und in der Freizeit Laienprediger. Auf diese Weise stellte er den Leuten gründlich Rechnungen aus, sowohl hier als auch fürs Jenseits. Rebeccas Mutter war – wie alle Mütter zu der Zeit – zu Hause. Dann waren da noch ihre beiden älteren Brüder, zu groß, als daß wir jemals Kontakt mit ihnen gehabt hätten. Und dann eben Rebecca.
    Zu der Zeit nach Nordnes zu ziehen, war keine einfache Sache. Nicht ohne Grund wurde der Stadtteil oft als Republik Nordnes bezeichnet, nicht zuletzt von den Einwohnern selbst. Es lag auf einer Halbinsel im Byfjord, auf drei Seiten von Salzwasser umgeben, und wenn man bedachte, daß einzelne Bergenser ab und zu sagen konnten: »Wir sind nich aus Norwegen, wir sind aus Bergen!«, dann war

Weitere Kostenlose Bücher