Gefallene Engel
den Fassaden, von denen die Farbe abblätterte, zeichneten Furchen plötzlicher Angst in die Gesichter der Menschen, die vorbeihasteten, ließen Hunde blitzartig zwischen den Häusern verschwinden, den Schwanz wie eine Rückfahrkarte zwischen den Beinen, und gaben mir das Gefühl, den Fjellhang zu besteigen, auf einer Welle von grollendem Donner.
Ich parkte hastig, zog den Mantel halb über den Kopf und lief geduckt in meine Gasse hinein und durch die Haustür.
Oben in der Wohnung riß ich mir die nassen Kleider herunter, legte ein paar alte Zeitungen in den Kamin, setzte Wasser auf für eine Tasse Tee und ging ins Schlafzimmer.
Ich ging zu einem der Kleiderschränke, öffnete die Tür und stellte mich auf die Zehenspitzen, um an das oberste Regal zu reichen. Ganz hinten an der Wand lag ein altes Fotoalbum, mit einem Pappeinband, Lederkanten und einem braunen Lederrücken, auf dem mit goldenen Buchstaben FOTO stand.
Ich nahm das Album mit ins Wohnzimmer, ging in die Küche und ließ den Tee ziehen, bevor ich mich in meinen Lieblingssessel setzte, die Teetasse auf dem Tisch neben mir und die Vergangenheit auf dem Schoß.
Draußen vor den Fenstern wurde das Gewitter schwächer und die Blitze seltener. Ich bemerkte sie nicht. Ich war schon auf dem Weg zurück, in eine Kindheit, die schrecklich lange her zu sein schien, in einem Stadtteil, der Nordnes hieß – und zu einem Mädchen namens Rebecca.
12
Ein Fotoalbum zu öffnen ist wie von der Vergangenheit eingefangen zu werden. Aber weil es eine Vergangenheit war in einer Zeit, in der man nur Schwarz-Weiß-Bilder machte, am liebsten draußen und am allerliebsten in den Ferien, gab es darin viele Leerstellen.
Zwischen diesen Blättern befand sich der größte Teil meines Lebens. Die meisten Bilder waren aus der Zeit vor 1956, als mein Vater, der Straßenbahnschaffner, der in seiner Freizeit Altnordische Mythologie studierte und außerdem ein fleißiger Fotograf war, starb, und aus der Zeit nach 1958, als ich selbst einen billigen Fotoapparat zum Geburtstag bekam und anfing, meine ersten, vorsichtigen Bilder zu machen. Meine Mutter fotografierte nie.
Das erste Bild mußte vom 17. Mai 1945 sein. Ich sitze auf einer Bank im Nordnespark, strecke dem Fotografen meine kleine norwegische Flagge entgegen und blinzele panisch gegen die Sonne. Ich habe kurzes, helles Haar und trage eine Art Overall, von unbestimmbarer Farbe.
Dann sind da ein paar Bilder, die am selben Tag gemacht worden sein müssen, irgendwo in einem Garten, zu Besuch bei Leuten, die ich nicht wiedererkenne. Die Männer tragen lange 17.-Mai-Schleifen, auf dem Tisch stehen Kaffeetassen und Kuchenteller, und ich sitze da mit einer Sprudelflasche mit Strohhalm in den Händen. Mein Vater hatte schon da den korpulenten, kompakten Körper, an den ich mich aus seinen letzten Jahren erinnere, aber sein Gesicht ist jünger und irgendwie heller, und meine Mutter ist noch dunkelhaarig. Sie wirken fremd. Ich habe sie anders in Erinnerung.
Und dann all die Ferienbilder, von den Sommern in Ryfylke, bei meinem Großvater, dem Tierarzt. Da sind Bilder von einem Fjordboot, wo meine Mutter und ich an Deck sitzen, bei tiefstehender Sonne und mit einem Stapel Holzkisten neben uns. Da sind lange Gestelle zum Heutrocknen, Kaffeetrinken auf der Freitreppe, Badefotos von einem steinigen Strand, wo die Frauen immer noch ganze Badeanzüge tragen und die Männer Badehosen, die aussehen, als seien sie aus Wolle gestrickt. Da ist der Mischlingshund Bamse, der irgendwann Ende der 50er Jahre oben auf der Hauptstraße überfahren wurde, da sind nahe und entfernte Verwandte, längst verstorbene Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen, zu denen ich den Kontakt verloren habe.
Da sind Bilder von meinem Großvater, dem Tierarzt, der mich mit zum Fischen nahm, an stillen, grauen Morgen, wenn das Wasser wie ein Spiegel um uns herum lag, und bevor die ersten Vögel an Land in den Laubbäumen ihr Morgenkonzert anstimmten. Bilder von meinem Großvater, dem Tierarzt, wie er Fische ausnimmt, rudert, das Wetter betrachtet, Kaffee trinkt und Waffeln ißt. Mit dünnem Haar, knittriger Haut im Gesicht und schmalen, starken Fingern, die dort im Distrikt mehr Kälber geholt hatten als alle anderen. 85 Jahre alt hörte er plötzlich auf, zum Fischen hinauszurudern. Aber das Boot lag immer noch unten am Anleger. An einem dunklen Augustabend, als ich achtzehn war, nahm er mich mit dort hinunter, holte eine Flasche Export unter der hinteren Ruderbank
Weitere Kostenlose Bücher