Gefallene Engel
ein wenig langbeiniger, bis sie im Alter von zwölf, dreizehn, als sie gerade anfing, Brüste zu bekommen, einen komisch unproportionierten Körper hatte, noch immer viel zu lange Beine, noch schmale Hüften, einen etwas zu kurzen Oberkörper und den Kopf komisch schief haltend über einem schmalen, weißen Hals, um den sie eine bescheidene Kette mit einem Kreuz trug.
Aber da hatten wir längst die ersten Augenblicke plötzlicher Verbundenheit miteinander erlebt, wie ein Junge und ein Mädchen im gleichen Alter eben lange Spielkameraden sein können, später gute Freunde, und dann – plötzlich – einander so nah, daß wir fast Geschwister hätten sein können.
Ein paarmal war ich mit bei ihr zu Hause gewesen.
Ich selbst kam – als einziger Sohn von etwas zu alten Eltern – aus einer ziemlich temperaturlosen Familienwelt, wo mein Vater, der Straßenbahnschaffner, über seine vielen Werke über Altnordische Mythologie gebeugt saß, selbstgedrehte Zigaretten rauchte, häßlich hustete und sich persönliche Notizen machte für ein Werk, das nie geschrieben werden würde, während meine Mutter über eine Handarbeit gebeugt dasaß, und ich selbst in Wild-West- oder Gespensterromanen las und das Radio ziellos Wetterberichte und Nachrichten vor sich hin sendete, Wunschkonzerte und Melodie-non-stop-Sendungen, Quizsendungen und Kriminalhörspiele. An den Wänden hingen steinige Landschaftsbilder von windzerzauster norwegischer Natur: Erbstücke aus dem Ryfylke und Sunnfjord.
Zu Hause bei Rebecca – und bei anderen Spielkameraden – erlebte ich kurze Einblicke in andere Formen von Familienleben, mit einer anderen Form von Zusammengehörigkeit.
Bei Pelle hingen an den Wänden Aquarelle von Paris und Rom, und die Kinder und die Eltern spielten gemeinsam hingebungsvoll Monopoly, während sie aus hohen Gläsern Brause tranken, auf die Stühle und Kaffeetische in rot, blau und gelb gemalt waren.
Bei Rebecca versammelte sich die Familie zu gemeinsamem Gesang, Andacht und Bibellesen, an den Wänden hingen Familienporträts und Bilder von Jesus, aber um die klirrenden Kaffeetassen und über den dicken Lefsenstücken war trotzdem eine lebendige Wärme, die ich bei meinem Vater, dem Heiden, und seiner Frau nur äußerst selten erlebte.
Bevor wir aßen, neigten wir die Köpfe zum Tischgebet. Ich murmelte undeutliche Worte vor mich hin und schielte auf Rebeccas gefaltete Hände mit den schmalen, weißen, haarlosen Fingern. Während der Vater die Losung des Tages las, die davon handelte, wie Jesus Fünftausend mit zwei Fischen und fünf Broten speiste, warf ich verstohlene Blicke auf ihr Gesicht, weich und ungeschminkt, dreizehn Jahre alt, mit sensiblen Lippen, Nasenflügeln, die gerade begonnen hatten, das Leben zu wittern, auf beiden Seiten einer Nase, die gerade soviel zu groß war, daß sie ihre Schönheit interessant machte, die graublauen Augen mit den warmen Pupillen und das dunkelblonde Haar, das nicht mehr so widerspenstig war, sondern aus der Stirn gebürstet und mit Hilfe eines rosa Haarbandes im Zaum gehalten, von wo aus es natürlich über ihre Ohren und auf die zarten Schultern fiel. Unter der weißen Bluse sprossen ihre Brustknospen, und mein Blick war gerade so weit nach unten gelangt, als wir die Köpfe senkten und die Andacht mit dem Vaterunser beendeten.
Innerhalb der familiären trauten vier Wände war Rebeccas Vater, Andreas Holmefjord, ein fröhlicher Mann, mit einem langen Pferdegesicht und einem traurigen Blick, als wüßte er, daß es eigentlich keinen Grund zur Fröhlichkeit gab, aber auf der Kanzel im Versammlungshaus in der Stadt verwandelte er sich zu einem glühenden Apostel, ein Prophet mit Weltuntergangsvisionen im Diaprojektor, ein Täufer der Neubekehrten, Befreier von Sklaven des Lebens, und ein Licht im Dunkel für die, die im Nebel des Unglaubens taumelten, als Blindgänger in Gethsemane. Als Sonntagabendprediger legte er sensible Hände an die Schläfen junger Mädchen in weißen Gewändern, hob sein Angesicht gen Himmel und zog sie empor aus dem Sumpf, in dem sie sich bis dahin befunden hatten; er heilte die Trinker vom Alkohol, redete Selbstmordkandidaten ins Gewissen und gab ihnen einen neuen Lebenssinn, dirigierte Sonntagsschulkinder beim zweistimmigen Psalmensingen und zeigte an dunklen Winterabenden Dias von der Missionsarbeit in Madagaskar. Er war Weihnachtsmann und Jesus in einer Person, und es war überhaupt kein Wunder, daß er sich manchmal – wieder im Hinterhof zu Hause –
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