Gefallene Engel
aufstehen und eine Runde gehen, um sicher zu sein, daß ich nicht unsichtbar geworden war.
Das war keine gefahrlose Wanderung. Ich traf auf Hindernisse, schmale Pässe und tiefe Schluchten, große Fleischteile und betäubende Dünste, wohin ich mich auch wendete. Finger strichen mir über die Schultern, ein Nagel fuhr mir rasch über den Nacken, eine Sekunde lang ruhte eine Hand unbekannten Ursprungs zwischen meinen Beinen, und es schwappten und spritzten sowohl Mineralwasser als auch stärkere Getränke über meine Jacke und mein Hemd. Als ich endlich zum Ausgangspunkt zurückgefunden hatte, war mir jedenfalls eines ganz klar: ich war nicht unsichtbar. Und noch eines: hier brauchte man nur hinzugehen und sich zu bedienen. Es gab für jeden Geschmack etwas – und noch ein wenig mehr.
Jakob nickte zur Tür. »Jetzt kommen die Musiker langsam von ihren Auftritten.«
Ich folgte der Richtung seines Blickes, und mein Herz begann unter der Gürtellinie zu klopfen. Am anderen Ende über die tanzenden Körper, schwatzenden Gesichter und fleißigen Finger, über Kleidungsstücke und Mangel an solchen, über Haarschnitte und Schlipskatastrophen hinweg, starrte ich, wie durch ein Röntgengerät, direkt in die goldbraunen Augen von Bella Bruflåt. Wie in einem Traum öffnete sie den Mund, ließ die Zunge unendlich langsam über die Lippen gleiten, schenkte mir ein hungriges Lächeln und begann, sich einen Weg bis zu mir zu bahnen, als hätte sie eine Machete dabei.
»Und jetzt?« hörte ich Jakobs Stimme hinter mir, von weit, weit weg, während ich zu treiben begann, wie hypnotisiert, durch das Gewimmel, ihr entgegen. Wie in Trance registrierte ich noch ein anderes Gesicht, über ihrer Schulter. Es war Stig Madsen, der mittlerweile allerorts anwesende Stig Madsen, ein Stig Madsen mit dunkler Unruhe im Blick, der in die gleiche Richtung sah wie ich, nur daß er ihr nur in den Nacken sah, was allerdings schon aufregend genug sein konnte.
Dann hatten wir einander erreicht. Sie war ganz in Leder, in braunrot, einer Art Overall mit Reißverschluß vom Hals bis hinunter zwischen die Schenkel, mit einem engen Gürtel um die Taille, eng anliegend an den richtigen Stellen, ansonsten locker und luftig.
Sie legte die Arme um meinen Hals, lehnte ihren Körper dicht an meinen, sah auf in mein Gesicht und sagte: »Kennen wir uns nicht irgendwoher?«
»Doch, aber das muß in Babylon gewesen sein«, sagte ich.
»Nein. Irgendwann danach?«
»Dann war es gestern abend, in Johnny Solheims Garderobe.«
Ihr Blick wurde einen Moment lang klar. »Genau.« Dann zog sie den Schleier wieder vor, bewegte spielerisch ihre Finger in meinem Nacken und schob den Bauch gegen einen zarten Punkt in meiner Seele. Ich fühlte mich wie ein Seiltänzer ohne Balancestange. Oder die Stange war zu kurz oder das Seil zu stramm. Wenn es nicht so eng gewesen wäre, hätte ich daneben getreten, wäre in die Knie gesunken und hätte mein Gesicht zwischen ihre Schenkel gelegt, denn jetzt balancierten wir ohne Netz, das spürte ich.
Sie hob ihr Gesicht wieder zu mir. »Und wie war noch dein Name?«
»Varg heiss’ ich.«
»Varg?« Sie kam noch eine Spur näher, als könne sie mich noch immer nicht deutlich genug sehen. »Aber Wölfe stehen doch unter Naturschutz, oder?«
»Es kommt trotzdem vor, daß einzelne Exemplare … erlegt werden«, sagte ich.
»Ich heiße Bella.«
»Ich weiß.«
»Aber eigentlich Belinda.«
Ich hielt den Kopf schräg. »Belinda … Ist das nicht … doppelt gemoppelt?«
»Belinda Bruflåt – klingt das nicht flott?«
»Das klingt nach einer Popsängerin aus Lindås, vor vielen Jahren.«
Sie lachte, ein leises Lachen, als streife die Katze einen Mondstrahl. »Ich bin aus Lindås.«
»Aber nicht von vor vielen Jahren, oder?«
Erneutes Lachen, etwas heller, als streife die Katze einen Mondstrahl. »Nein. Nur vor vierundzwanzig.«
Ich zögerte. »Dann reichst du mir nicht höher als bis zum – Nabel.«
Sie lächelte zweideutig. »Muß ich dir denn eigentlich höher reichen?« Dann senkte sie den Kopf wieder – gegen meinen Hals.
Ich sah über ihren Kopf hinweg. Neben uns tanzte noch immer die Kleopatrafrau mit dem Mann mit der Absprungschanze. Jetzt sah ich ihr Profil: scharf und weiß vor dem fließenden Hintergrund. Etwas an ihr kam mir bekannt vor und ließ mich stutzen. Dann schwang ihr Partner sie herum, und ich sah sie nicht mehr.
Stig Madsen konnte ich nicht mehr sehen. Langsam bugsierte ich uns herum, so daß ich in
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