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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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der Vorflur gewesen war, konnten wir im Kreis um die Manege gehen, von der ehemaligen Küche zum ehemaligen Schlafzimmer, vom ehemaligen Schlafzimmer zum ehemaligen Wohnzimmer, vom ehemaligen Wohnzimmer zu einem ehemaligen weiteren Wohnzimmer.
    Das Licht war zu einer tropischen Dämmerung gedimmt, mit Hilfe von nackten Glühbirnen, die rot, blau und lila angemalt waren. Die Wände waren auf eine Weise mit Farbe besprüht, die auch große Teile der Decke und des Bodens mit einbezog, in einem Farbton irgendwo auf der Skala zwischen schwarz und lila. Die Möblierung bestand aus etwas verlorenen schwarzen Plastikstühlen, von der Art, wie man sie im Wartezimmer eines korrupten Wohnungsmaklers gegen Ende der 60er Jahre finden konnte. Tatsächlich gab es auch kaum jemanden, der darauf saß.
    Die meisten saßen oder hingen aneinander oder einander um den Hals oder bewegten sich in pawlowscher Rhythmik nach der Musik, die in großen, flachen Wellen aus den gigantischen Lautsprechern schwappte, die symmetrisch in allen freien Ecken aufgebaut waren. In einer Ecke des ehemaligen Wohnzimmers stand eine primitive Bar, wo wir unsere Flaschen abholen konnten, für die wir schon einen Wucherpreis bezahlt hatten, und uns ansonsten, im Tausch gegen weiteres Bargeld, mit einer reichlichen Auswahl an Getränken versorgen konnten, von einem demonstrativ alleinstehenden Selters bis hin zu den teuersten Whiskysorten, typischerweise in zollfreien Flaschen.
    Wir fingen langsam an, tauschten den ersten Bon ein und suchten uns zwei Stühle am Rande des Geschehens mit Ausblick auf die Gürtelgegend der restlichen Klientel.
    Es war die Stunde der Lebensmüden. Gesichter, die Methusalem oder Peter Pan hätten gehören können, tanzten mit Körpern wie von Mae West oder Madonna. Miniröcke aus schwarzem Leder tanzten mit stonewashed Jeans, und schmutzigrosa Leggings von der Sorte, die an altmodische Herrenunterhosen erinnert, aber kaum die Konturen eines Muttermals verbargen, bewegten sich mit schläfriger Sinnlichkeit gegen flatternde italienische Pumphosen mit Goldlamé im Muster. Eine Frau mit einem Oberbau wie Kleopatra und einem Unterbau wie eine drittklassige Varietékünstlerin, mit schwarzer, ägyptischer Frisur, goldschimmernder, hautenger Bluse, einem rosa Glockenröckchen und schwarzen Wolleggings, tanzte mit einem langen, schlaksigen Klappergestell von einem Kerl, auffallend konventionell gekleidet, mit Blazer und koksgrauer Hose und mit einer Kinnpartie wie eine Absprungschanze für Skispringer. Eine künstliche Blondine mit Annie-Lennox-Gesicht tanzte allein in einem Ofenrohr von einem schwarzen Strickkleid. Hingebungsvoll streichelte sie ihre eigenen, flachen Brüste, an denen nur die vorstehenden Brustwarzen verrieten, welchem Geschlecht sie angehörte, und ohne ihren Ausweis gesehen zu haben, wäre ich mir auch da noch nicht so sicher gewesen. Neben ihr tanzte dagegen ein zwei Meter großer Typ, kahlköpfig, im Smoking und Ende Vierzig, mit einem dekorativen Jüngelchen von siebzehn, in knallengen Jeans und einem quergestreiften weiß-blauen T-Shirt. Eine Frau von wohl fast Sechzig – eine Walküre aus der Zeit Diana Dors – tanzte mit einem jungen Mann meines Alters, mit Fliege und verschleiertem Blick, gekleidet in Karos, wie der Clown, der er war. Hinter ihm fielen Schatten über Schatten, Finger bewegten sich suggestiv sehr in der Nähe verschiedenster Geschlechtsorgane, Lippen küßten Hälse und einfach in die Luft, Zungen schleckten an Ohren und haarigen Adamsäpfeln, und durch das Ganze nähte die Musik einen schrillen Kreuzstich mit spitzer Nadel auf gespannte Trommelfelle, in einer Lautstärke, die dir Blutungen verursachen würde, wenn du zu lange bliebst.
    Ich lehnte mich an Jakob und rief: »In welchen Kreisen befinden wir uns?«
    »In den untersten, fürchte ich.«
    »Kennst du jemanden?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nur Gesichter.«
    »Keine Körper?«
    »Nur Kopien.«
    Ich lehnte mich wieder zurück und nippte an dem lauwarmen Sprudelwasser, ohne daß es in mir Arien zum Klingen brachte.
    Wir blieben also da sitzen, als gehörten wir zum Inventar. Es wurden Partner gewechselt, die Musik änderte den Charakter, von heller Hysterie zu dunklem Moder, die Bar leerte sich langsam, und das Lokal wurde voller und voller, ohne daß sich ein Mensch um uns kümmerte. Niemand forderte uns zum Tanz auf, niemand kam, um ein Gespräch anzufangen, niemand bat uns, unsere Stempel in seinen Paß zu setzen. Schließlich mußte ich

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