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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Ewigkeit.
    Schon damals hatte sie eine Art müder Routine in den Augen, wenn sie wissende und leicht verächtliche Blicke auf unsere Unterleiber warf. Sie hatte zu viele Onkels gehabt, sowohl Verwandte als auch andere, die, seit sie fünf Jahre alt war, die Hände in ihrer Hose gehabt hatten, wenn sie auf ihrem Schoß saß. Später hatte ich sie ab und zu in der Stadt gesehen, überraschend gut gekleidet, frisiert und schön geschminkt, und ich hatte nicht ohne Verwunderung gedacht, daß es ihr ja wohl trotz allem gut gehen mußte. – Aber dann tauchte sie plötzlich wieder auf, zwanzig Jahre älter, verhärmt wie nach Jahren des Elends, mit Löchern in den Strümpfen, schief über den Mund gemaltem Lippenstift, an der einen Hand ein kleines Kind mit viel zu schmutziger Hose und viel zu grauem Gesicht, und später wurde sie, als erfülle sich damit ihr Schicksal, ein festes Mitglied des ständig wechselnden Kreises um Kaggen. – Wenn ich fünfzig Kronen investierte, könnte ich sie mit in den nächsten Hauseingang nehmen, sie mit meiner Sprungfeder bearbeiten und die letzten Beeren von ihrem Busch pflücken, aber wir hätten keine Freude daran, weder sie noch ich. Also ließen wir es bei einem halb wiedererkennenden, halb unsicheren Blick bewenden, während ich meine letzten Zehn-Kronen-Stücke hervorholte und sie Kaggen gab.
    »Drei Sotra-Dollars, Kaggen. Bist du zufrieden?«
    Er schlug mir anerkennend auf den Oberarm. »Bist’n guter Mensch, Varg. Hab’ ich schon imma gesacht. ’n guter Mensch.«
    Dann hinkte er zurück zu den anderen, stolz wie ein Tischfußball-Spieler nach seinem ersten Tor in einem richtigen Spiel.
    Ich ging weiter. So war es. Wenn du durch deine eigene Stadt gehst, begegnest du überall deiner Vergangenheit. Die Kindheit ist eine Wunde, die nie verheilt; die Jugend ein Plakat, das jemand vergeblich versucht hat, von der Wand zu reißen. All die Jahre, die du gelebt hast, liegen da, wie schmutzige Spuren im Schnee hinter dir. Du hast deine Kreidestriche auf die meisten Wände dieser Stadt gezeichnet, und keine Putzfrau der Welt hat eine Seife, die scharf genug ist, um sie ganz wegzuwaschen. Und das Kind, das du einmal warst, wirst du nie wieder.

21
    Ich ging zum Büro hinüber, leerte die Reklamesendungen aus dem Briefkasten und konstatierte, daß niemand versucht hatte, auf meinen Anrufbeantworter zu sprechen.
    Ich wählte Jakobs Nummer. Niemand nahm ab.
    Dann holte ich den Wagen, überquerte den Puddefjord, bog nach Norden ab und parkte den Wagen unterhalb der weißen Holzkirche, die in eine ländliche Gemeinde gehört hätte und nicht in eine Beinahe-Großstadt. Um die Kirche herum standen kleine Holzhäuser, die in eine andere Zeit und in einen anderen Distrikt gehörten. So war es aus irgendeinem Grunde immer gewesen. Laksevåg würde nie ganz Bergen sein. Eigentlich lag es irgendwo in Rogaland.
    Hinter der Kirche hatte der Herbst seinen matten, nassen Schleier über die großen, grünen Flächen zum Damsgård-Herrenhof gelegt, dem alten Rokokobau, der jetzt total restauriert wurde und wie ein Königsschloß über der sonst so proletarischen Bebauung Laksevågs ruhte.
    Ich stieg aus dem Wagen. Schon draußen vor der Kirche hörte ich das Dröhnen der Orgel.
    Über dem Haupteingang stand eine Holzskulptur, unter der der Name St. Paulus stand und ein Hinweis auf Rom. 1.16. Im Portal selbst hing ein vergoldeter Engelkopf, als Erinnerung an den des Taufengels in der Nykirke.
    Ich versuchte es mit der Tür. Sie war verschlossen.
    Ich ging durch ein Tor rechts von der Kirche und versuchte es dort mit einem Seiteneingang. Er war offen.
    Ich trat in einen Raum mit mehreren Türen. Eine Treppe führte hinauf in den Glockenturm, eine Tür hinaus in den Vorraum und eine andere ins Kirchenschiff. Ich wählte letztere.
    In eine Kirche zu gehen gibt dir, gläubig oder nicht, ein Gefühl der Feierlichkeit. Wenn du etwas auf dem Kopf hast, nimmst du es ab. Du gehst vorsichtig umher, und wenn du etwas sagen willst, sprichst du mit gedämpfter Stimme. Selbst in protestantischen Kirchen, die kühl sind und sauber, von Heiligenbildern gesäubert und ohne das rätselhafte Halbdunkel, das man normalerweise in katholischen Kirchen findet, kannst du es nicht lassen, den Blick zur Dachwölbung zu erheben und dem, was darüber sein mag. Von genau dieser Feierlichkeit ergriffen, blieb ich ruhig genau hinter der Tür stehen.
    Es war warm und heimelig im Kirchenraum. Die Wände bestanden aus braunem Holz, das zu

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