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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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gebildet hatten, heute nur noch einer am Leben war: Jakob Aasen.
    Alle drei anderen waren tot, und keiner von ihnen war an Altersschwäche gestorben.

20
    Draußen auf der Terrasse vor dem Polizeigebäude blieb ich einen Augenblick stehen und überlegte.
    Es waren winzige Frostflocken in der Luft, Schnee, der sich noch nicht materialisiert hatte. Ein großer, gelber Trolley-Bus mit den charakteristischen Hosenträgern glitt wie eine verwachsene Larve durch die Allehelgensgate. Menschen gingen mit gesenktem Blick am Polizeigebäude vorbei, als hätten sie Angst, hineingebeten zu werden.
    Ich ging hinunter zur Bankfiliale an der Korskirkealmenning, steckte eine Scheckkarte in den Geldautomaten und drückte die Daumen, daß sie nicht mit leeren Händen wieder heraus käme. Es wirkte. Ich steckte fünf anscheinend druckfrische Hunderter in die Brieftasche und beeilte mich hinauszukommen, bevor mich jemand erkannte.
    Auf der Ecke zwischen Korskirkealmening und Hollendergate standen drei, vier Leute andächtig um eine Flasche Pils herum, und ich konnte mir gerade in dem Moment nichts Kälteres vorstellen als Bier.
    Zwei von ihnen waren Fossilien aus meiner eigenen Urzeit, und ich erkannte sie mit einem wehen Herzklopfen wieder. Sie waren einmal Kinder gewesen, im selben Stadtteil wie ich, aber das Schicksal war noch unfreundlicher mit ihnen umgegangen.
    Kaggen entdeckte mich ungefähr zur selben Zeit, murmelte Lisbeth ein paar Worte zu und hinkte auf mich zu. Lisbeth folgte ihm mit einem flachen Blick, der gerade eben über die Bordsteinkante schwebte, blieb aber stehen, mit einem Gesichtsausdruck wie von einer gefallenen ägyptischen Priesterin. Ihr dunkles Haar hatte ungepflegte graue Strähnen bekommen, und sie war nicht mehr die tiefsinnige Schönheit, die sie in ihren besten Jahren gewesen war.
    »Hei, Varg«, sagte Kaggen mit berstender Stimme, hinkte vor mich, griff mich am Mantelaufschlag und blieb so stehen, als brauche er etwas, an dem er sich festhalten konnte.
    Er war immer noch nicht viel größer als 1.60, als hätte er einfach irgendwann aufgehört zu wachsen. Früher einmal war er der schnellste Mittelfeldspieler der Stadt gewesen und der vielversprechendste Juniorenspieler, den die Mannschaft vom Sportverein Nordnes jemals gehabt hatte. Er spielte in der A-Mannschaft als 16jähriger, und man munkelte, daß die Talentjäger von Brann {7} schon hinter ihm her waren. Eigentlich hieß er Karl Gerhard, aber sie nannten ihn nur Kaggen.
    Aber er sollte nie bei Brann spielen, und er blieb nicht lange in der A-Mannschaft von Nordnes. Er trickste schneller mit den Halben als mit dem Ball, nahm im Laufe einer Herbstsaison zwölf Kilo zu, saß auf der Reservebank während der ersten Frühlingsmonate und fuhr ab Juli zur See. Dort qualifizierte er sich nicht einmal für die Bordmannschaft und kam drei, vier Jahre später gebrandmarkt nach Hause. Seitdem hatte er ständig engere Kreise um die Herberge der Inneren Mission in der Hollendergate gezogen.
    In unserer Straße war er ein fröhlicher, kleiner Räuber gewesen, zwei, drei Jahre jünger als ich, aber mit schnellen Beinchen und einer Klappe, die groß genug war, um mit denen, die ein halbes Jahrzehnt älter waren als er, Streit anzufangen. Seine Mutter hatte ihn nach einem schwedischen Revuestar benannt, den sie in ihrer Jugend im Radio gehört hatte, aber darüber hinaus war an dem Dasein, in das sie ihn gebettet hatte, nicht viel Glamouröses.
    Wenn ich in das versoffene, unrasierte Gesicht hinuntersah, in dem die Augen wie leere Flaschen im Brackwasser dümpelten, konnte ich nur mit Mühe die Konturen des Jungen erkennen, der er einmal gewesen war.
    »Va-Varg … Haste ’nen Zehner fü’ mich, ich hab’ so’n Durst.«
    Lisbeth hielt den Abstand. Vielleicht hatte sie mich immer noch nicht erkannt. Ich war ihr vor zwei, drei Jahren begegnet, draußen bei einem Zwerg, den sie Riesen-Olsen nannten, und sie hatte mich auch damals nicht wiedererkannt. Sie war wie ein sinnlicher Frühlingstraum durch das Dasein so vieler Jungs gezogen, daß es zuviel gewesen wäre, zu verlangen, daß sie sich an uns alle erinnerte. Damals war sie eine etwas verwachsene Dreizehnjährige gewesen, mit Brüsten wie Gummibälle, schattigen Hüften und dem Ruf, Ibsens vielzitiertes Johannisbeergebüsch zwischen den Beinen zu haben, nachdem jemand sie und ein anderes Mädchen beim Nacktbaden im Nordnespark beobachtet hatte, an einem etwas zu heißen Septemberabend vor einer

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