Gefallene Engel
einem blauen Himmel mit gelben Sternen hinaufreichte, fast wie in einer Kinderzeichnung.
Ich ging langsam weiter auf den Altar zu. An den Wänden des Schiffes hingen auf jeder Seite drei Schilder, in der Form eines Schildes, mit dem Text GLAUBE, LIEBE und HOFFNUNG auf der linken, und KRAFT, RUHE und LEBEN auf der anderen Seite. Der Eingangsbereich des Altarraums wurde von einem Holzengel bewacht, der eine elektrische Fackel in den Händen hielt, und an der Decke darüber hing Jesus am Kreuz mit zwei Frauen zu seinen Füßen. Die Seitenwände des Altarraums waren von je einem großen Wandgemälde bedeckt: links eine Landschaft, die nichts anderes darstellen konnte als eine naivistische Vorstellung des Gartens Eden, rechts kniende Menschen während einer Flut.
Hinter dem Altar wiesen drei Glasmalereien hinauf zum Damsgård-Hof. Die linke stellte einen Engel mit Harfe dar. Unter dem Bild stand: DIES IST DER TAG DES HERREN. Auf dem rechten Bild war ein Engel mit einer Sitar in der Hand, und der Text lautete:
LASSET UNS DARUM FROH UND GLÜCKLICH SEIN. In der Mitte dazwischen war das Bild einer starken Männergestalt mit einer Bibel in der Hand. Es konnte Gott sein, Jesus, Peter oder Paulus. Als Figur symbolisierte er das Wort.
Die Orgelmusik umwehte mich wie Herbstblätter im Wind. Es war keine Melodie, die ich wiedererkannte, sondern Improvisationen, Übungsläufe, um die Fingermuskulatur zu lockern, mehr Anschläge und Stimmungen als Melodielinien und Harmonien.
Ich drehte mich um und sah zur Empore hinauf. Unter zwei sternförmigen Lampen begegnete ich Jakobs Blick im Rückspiegel der Orgel. Er schlug zwei Strophen von Yesterday an, um zu zeigen, daß er mich gesehen hatte, und endete mit einer schnellen Phrasierung und einem Ausrufezeichen in Form eines zweistimmigen Akkordes.
Dann stand er auf und gab ein Zeichen, daß ich zu ihm heraufkommen sollte. Ich ging zum Seiteneingang wieder hinaus und links die Treppe hinauf.
Er empfing mich mit einem ernsten Gesicht. »Hast du die Zeitungen gesehen?«
Ich nickte.
»Ich habe versucht, dich anzurufen, aber …«
»Nein, ich war … außer Reichweite, sozusagen.«
»Was glaubst du, ist passiert? Wer kann …«
Ich sah ihn an. »Ich würde dich gern dasselbe fragen.«
»Ich fass’ es nicht!« Er lächelte blaß. »Stig Madsen schien ziemlich doll drauf zu sein, Belinda Bruflåt zu treffen an dem Abend, oder? Und entsprechend aufgeregt, als der Johnny nicht kam?«
»Willst du damit andeuten …«
»Nichts will ich. Es fiel mir nur ein.«
»Und was ist mit dir? Ich meine – als du gingst. Hast du ihn irgendwie gesehen?«
»N-nein.«
»Welchen Weg bist du gegangen?«
Sein Blick flackerte eine Sekunde lang. »Rüber zum Bahnhof, um ein Taxi aufzugabeln.«
»Und hast du eins bekommen?«
»Nein. Nein, ich mußte warten – eine Weile.«
»Wie lange?«
»Ich weiß nicht mehr so genau. Ich – war ja schon ganz schön …«
»Aber du hast ein Taxi bekommen?«
»Jaja. Und ich fuhr direkt nach Hause. Allein. – Tante«, fügte er hinzu und zog eine Grimasse.
»Wir müssen wohl beide damit rechnen, von der Polizei zu hören.«
Er sah mich unruhig an. »Polizei? Warum denn?«
»Sie werden sicher seine Bewegungen am letzten Tag überprüfen, und sie werden sicher sowohl davon erfahren, daß wir ihn am Freitagabend in der Garderdobe besucht haben, als auch, daß ich am Samstagmorgen bei ihm war.«
»Glaubst du, sie sind so gründlich? Glaubst du nicht, daß sie schon ihren Verdacht haben? Ich meine – normalerweise werden ja wohl zuerst die Ehegatten überprüft, oder? Schließlich bist du doch sozusagen vom Fach.«
Ich nickte. »Du meinst, weil er den Ruf hat, seinen Frauen gegenüber gewaltätig zu sein, hat jetzt eine von beiden gelernt zurückzuschlagen?«
»Ja?« Er sah mich hoffnungsvoll an.
»Ich habe sie gestern getroffen. Ich weiß nicht … Ich hab’ so ein Gefühl, aber ich hab’ mich auch schon geirrt. Ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck, daß sie sonderlich – gewalttätig wirkte.«
»Nein?«
»Nein.«
Unten in der Kirche ging plötzlich eine Seitentür links von der Kanzel auf. Ein großer, magerer und dunkelhaariger Mann, in einem grauen Anzug und Priesterhemd, kam herein und sah zu uns hinauf. Es war etwas Ernsthaftes und Feierliches an seiner Art, sich zu bewegen, mit langsamen Schritten, als ginge er in nassem Neuschnee.
Ein kleines Lächeln glitt über seine Lippen, und seine Stimme rief ein unhöfliches Echo hervor, das ihm
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