Gefallene Engel
– Vater. Früher. – Wo willst du hin?«
Sie betrachtete mich immer noch zweifelnd. »Ich – runter zur Kirche. Konfirmationsunterricht.«
Ich öffnete die Tür. »Dann spring rein. Ich kenne Berge Brevik auch gut.«
Das schien sie zu überzeugen. Sie setzte sich ins Auto, ganz außen an der Tür und zögerte einen Augenblick, bevor sie sich den Sicherheitsgurt umlegte.
Ich lächelte ihr beruhigend zu. »Ja? Gehst du denn gern zum Konfirmationsunterricht?«
Sie nickte stumm.
»Bist du nicht ein Jahr zu spät dran?«
Plötzlich hatte ihr Gesichtsausdruck etwas Altkluges. »Ich war nicht reif genug im letzten Jahr. Man soll ja wissen, was man da tut, oder nicht.«
Ich nickte. »Da hast du wohl recht.«
Ich wartete, daß die Ampel grün wurde, und überquerte die Kreuzung zur Carl Kowsgate. Ich bog links ab, fuhr am Damsgård Herrenhof vorbei und bog rechts ab zum alten Zentrum von Laksevåg.
»Fahr nicht ganz an die Kirche ran«, sagte sie plötzlich. »Ich will nicht, daß uns jemand sieht.«
Ich fuhr an die Seite, nahm den Gang heraus, löste den Gurt und sagte: »Eigentlich wollte ich mit deiner Schwester reden.«
»Ruth?«
»Mmh. – Weißt du, wo sie ist? Deine Mutter wußte es nicht.«
»Weil sie sich schämt!«
»Wegen Ruth?«
Sie nickte kräftig. »Aber Ruth hat immer den Kontakt zu mir behalten. Ich weiß immer, wo sie ist, auch wenn’s ganz schlimm ist.«
»Ganz schlimm?«
Sie sah mich ernst an, mit etwas plötzlich Erwachsenem im Gesicht. »Ruth ist – rauschgiftsüchtig. Im Moment versucht sie gerade, runterzukommen. Sie ist in einer Art Entzugsheim, einem Kollektiv, irgendwo draußen in Lindås.«
»Aha! Sie hatte – keine Arbeit?«
»Sie hat angefangen zu studieren, aber dann …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ruth ist eigentlich schon vor – sechs, sieben Jahren von zu Hause ausgezogen, als sie siebzehn war. Sie traf einen Typen, der viel älter war als sie …«
»Wie hieß er?«
Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich war selbst erst acht oder neun. Mir hat keiner was erzählt. Erst hinterher hat Ruth …«
»Aber die Schule hat sie fertig gemacht?«
»Ja. Und sie hat angefangen zu studieren. Sie hat die ganze Zeit versucht, wieder auf die Beine zu kommen, aber … Ich weiß es nicht. Vielleicht geht es ja diesmal.«
»Also, wenn ich mich an dieses Kollektiv in Lindås wende, dann finde ich sie da?«
»Jedenfalls war sie da, als sie mich das letzte Mal anrief. Vor vierzehn Tagen.«
Ich schlug die Hand leicht aufs Lenkrad. »Gut. Ansonsten … Ich hätte es vielleicht zuerst sagen sollen, daß es traurig ist, das mit deinem Vater. – War es ein großer Schock für dich?«
»Mein Vater?« Sie sah durch mich hindurch, in Höhe des Halses. »Johnny? – Ich kannte ihn nicht. Mutter hatte jeden Kontakt abgebrochen, und er … Er selbst hat nie versucht, Kontakt zu uns aufzunehmen. Nicht ein einziges Mal. Er hat sich nicht um uns gekümmert. Nicht für fünf Pfennig.«
»So?« Eine plötzliche Traurigkeit ergriff mich. »Du kannst dich also auch nicht daran erinnern, was zur Scheidung deiner Eltern geführt hat?«
Sie schüttelte energisch den Kopf und schloß die Augen, wie um mir zu zeigen, an wie wenig sie sich erinnerte. »Nichts. Ich war ja erst – vier Jahre alt.«
»Vier Jahre.« Ich lächelte schief. »Das ist lange her, wenn du jetzt fünfzehn bist.«
»Wie alt bist du?«
»Ich? Zehn mal vier, Sissel, und noch ein paar Jahre dazu. Aber – komischerweise kommt es mir vor, als sei es gar nicht so lange her, daß ich selbst vier war.«
»Ich glaube«, sagte sie nachdenklich, »daß das Leben ein Kreis ist. Daß du dahin zurückkehrst, wo du angefangen hast, zum Schluß. Und wenn du über die Hälfte hinaus bist, dann siehst du nicht mehr nach vorn, sondern zurück, wenn du verstehst, was ich meine?«
Ich nickte. »Das klingt sehr klug und sehr philosophisch – für eine Fünfzehnjährige. Aber es ist ein gutes Bild. Du wendest der Zeit, als du vier warst, also noch den Rücken zu, während ich – deiner Meinung nach – schon auf dem Weg – nach Hause bin?«
Sie nickte energisch, als fürchtete sie, ich würde die Nuancen nicht verstehen. Dann kicherte sie still und saß einen Moment in ihre eigenen Gedanken versunken da.
Vor dem Wagen gingen ein paar Jugendliche vorbei, und Sissel duckte sich tief auf den Sitz hinunter, wie um sich zu verstecken.
»Freunde von dir?« fragte ich leise.
Sie nickte. »Ich muß jetzt gehen.« Sie
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