Gefallene Engel
entweder hatte er einen neuen Job – oder er sollte eine Frau treffen. Und Jobs … tja? Er hatte die letzten vier Jahre keine Schlagstöcke mehr angefaßt. Er hätte sich sicher durch ein paar Nummern gerettet, aber ein sonderlich sicherer Pilot war er nicht mehr. – Also …« Er hob mir fragend die Hände entgegen.
»Eine Frau. Aber wer?«
»Und hat das eine Bedeutung?«
»Tja.«
»Stell dir diese Szene vor, Veum. Arild Hjellestad traf eine seiner alten Flammen – und vergiß nicht, er hatte viele! Er verabredet ein Treffen mit ihr, putzt sich raus, freut sich auf einen Abend voll nostalgischem Glanz – und dann … kommt sie nicht.«
Ich nickte.
Er fuhr fort: »Er wartet – und wartet – und wartet. Aber sie kommt definitiv nicht. Was tut er also?«
»Besäuft sich. Allein. Um die Scham zu betäuben.«
»Und es ist kalt, bitter kalt. Er sucht sich einen Winkel in einem Garten vor irgendeinem beliebigen Haus, wo er keinen kennt. – Und dann – sorti!«
Ich sah ihn an. »Die Frage ist nur die, Vadheim. Hatte er eine feste Adresse, und hatte ihm jemand ein Engelbild geschickt?«
Er starrte mich an, mit dem erwarteten, ungläubigen Blick. »Ich hab’ mich wohl verhört? Ein – Engelbild?«
Ich lehnte mich zurück und erzählte ihnen alles – von Harry Kløve und seiner Mutter und dem Engelbild, das er mit der Post bekommen hatte, vom Besuch bei Bente Solheim und dem Brief, den sie mir gezeigt hatte … »Hat sie dich nicht angerufen, Vadheim?«
Er schüttelte den Kopf und notierte wie besessen.
»Sie wirkte vollkommen gedopt. Sie hat es sicher nur vergessen«, sagte ich und erzählte weiter.
Ich behielt nichts für mich. Ich erzählte von den Besuchen bei Anita Solheim und Halldis Heggøy, davon, daß ich mit Sissel gesprochen hatte, und wo wir Ruth finden könnten. »Also mit anderen Worten«, schloß ich. »Arild Hjellestad könnte jemanden getroffen haben, der mit ihm getrunken hat und ihn in der Kälte zurückließ. Eine Art Verführung. Eine tödliche Verführung. Und in dem Fall suchen wir – nach einer Frau.«
Vadheim schüttelte resigniert den Kopt und wandte sich an Eva Jensen. »Gib diesem Mann den kleinen Finger, und er endet mit dem Bart im Postkasten. – Aber ich kann nichts anderes sagen, als daß es interessant war zuzuhören.« Er wandte sich wieder zu mir.
»Also, das Ganze noch einmal, Veum. Der Reihe nach.«
»Okay.«
»Du meinst, daß alle Verstorbenen – Mitglieder der Harpers – eine Vorwarnung mit der Post erhalten haben, in Form eines Engelbildes mit diversen Zeichen drauf?«
»Rote Kreuze über schon eingetroffenen Todesfällen! Johnny Solheim bekam eins mit zwei roten Kreuzen – Harry Kløve und Arild Hjellestad – einen Kreis um einen herum – er selbst – und einen unberührten: Jakob Aasen. Schwarze Kreuze über allen Köpfen.«
»Aber dann meinst du, daß es noch einen Todesfall gibt?«
»Genau! Und das ist eine wichtige Spur. Das ist tatsächlich der Tod, der mich auf die ganze Geschichte gebracht hat. Jan Petter Olsen, ein früherer Klassenkamerad, gemeinsamer Freund von Jakob und mir, der auch einem sogenannten normalen Unfall zum Opfer fiel! Denk mal! Er war Maurer und fiel von einem Gerüst. So was kann passieren. Auch dem erfahrensten Handwerker. Aber es kann auch sein, daß dir jemand dabei hilft, oder?«
»Aber wo ist seine Verbindung zu der Gruppe? Und bekam er einen Brief?«
»Das letzte weiß ich nicht. Danach mußt du seine Witwe fragen, wenn du auch dem Fall nachgehen willst. Ich trau’ mich nicht. – Aber die Verbindung, die ist ziemlich klar. An einem ganz bestimmten Tag – dem 16. Oktober 1975 – kam er zufällig zusammen mit den Harpers zu ’ner Fete. Zu Hause bei Johnny Solheim. An diesem Abend geschah etwas, das die achtzehn Jahre alte Gruppe sprengte, eine Ehe zerstörte und eine feste Beziehung, ja, vielleicht mehrere, soweit ich davon weiß – so schlimm, daß mehrere der Beteiligten viele Jahre nicht mehr miteinander redeten –, kurz gesagt …« Ich hob die Hände. Er war am Zug.
Er sah mich mit einem fuchsartigen Ausdruck an. Eva Jensen saß mit geradem Rücken da, wie auf Kohlen, mit zwei plötzlichen roten Flammen auf den Wangen. »Und was sollte das gewesen sein, Veum?« fragte er vorsichtig.
Ich lehnte mich schwer zurück. Dann beugte ich mich wieder vor, spürte, daß mir Nacken und Schultern weh taten. Ich lehnte mich wieder zurück, legte die Arme auf die Lehnen und versuchte, meine Muskeln zu entspannen.
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