Gefallene Engel
versprichst, kein Wort von – dem zu sagen, was du hier heute gesehen hast, dann …«
»Ich versprech’s! Bei meiner Seele, wenn die in diesem Hause einen Wert haben sollte.«
Sie lächelte schief. Wir waren jetzt beinah auf einer Wellenlänge.
»Okay. Er hatte einen ganz alltäglichen Namen:.. Jan Petter Olsen.«
»Jan Petter!« Zum zweiten Mal jagte sie mir einen kalten Schauer über den Rücken, allerdings aus völlig anderen Gründen.
»Ja?« Sie sah mir prüfend ins Gesicht. »Ist was mit ihm?«
Ich sagte gedehnt: »Nichts weiter, nur daß er – auch tot ist.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Ich war bei seiner Beerdigung, letzten Freitag.«
Sie seufzte schwer und hob resigniert die Arme. »Alles andere – hab’ ich vergessen.«
Ich erhob mich wieder. Auf dem Weg zur Tür sagte ich: »Wie gesagt … Du kannst mit Besuch rechnen. Es wäre vielleicht nicht dumm, die Tür abzuschließen, wenn du mit deinen Dingen beschäftigt bist. Für den Fall, daß jemand genauso überraschend kommt wie ich …«
Ich folgte den Blutspuren nach draußen, aber sie waren nicht mehr frisch und rot. Sie waren schwarz wie Pech.
Draußen hatte der Tag seine Tore geschlossen. Nur ein schmaler Streifen von gräulichem Rot hing weit draußen am Horizont, wie ein Licht, das gerade noch unter der Tür hindurchschimmert, bevor die allerletzten Lampen erlöschen und alle sich zur Ruh begeben. Nur die Nacht ist wach. Denn die Nacht ist die Tochter des Meeres. Sie geht leise, auf nackten, nassen Füßen, über einen Boden aus dunklen Brettern, wenn alle anderen schlafen – oder tot sind.
32
Ich folgte der Asphaltspur nach Süden, im Grenzland zwischen Hell und Dunkel. Im Westen lag das Meer wie ein bodenloser Rachen, mit dem ersterbenden Tag wie eine Schlinge um den Hals. Das Licht der stärksten Sterne kam gerade eben durch den Abenddunst, und weit draußen glitt ein Schiff langsam in wärmere Breitengrade. Ansonsten war da draußen das totale Dunkel: Abend des Jüngsten Tages. Im Osten konnte ich die Notsignale der letzten Zivilisation erahnen. Die Lichter in Oslvik und auf Askøy, den Fjellhang hinauf und ins Land hinein nach Åsane funkelten wunderbar, wie eine Milchstraße aus vor die Säue geworfenen Perlen, in den nördlichsten Gebieten einer verlorenen Welt, am Abgrund vor zwei Arten von Tod. Der eine plötzlich und gewaltsam, in einem Inferno von detonierenden Bomben, der andere ein langsamer Erstickungstod in einer vergifteten Natur, mit einer sich auflösenden Ozonschicht und angesteckt von einer unsichtbaren Pest.
Um mich herum lagen Granithügel wie graue Legierungen des Nachtdunkels. Im Abendverkehr begegneten mir in regelmäßigen Abständen Autos mit Fahrern auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, nach Ågotnes oder in die Stadt. Der eine oder andere Autofahrer fuhr in derselben Richtung an mir vorbei, mit Bremslichtern, die vor mir am weißen Mittelstreifen entlang zu frischen Blutflecken wurden, bevor die Nacht sie verschluckte.
Ich hielt in Loddefjord und kaufte einen Hamburger. Ich fragte mich, was ich tun sollte. Ich hatte nicht das Gefühl, daß mir Anita Solheim heute schon weitere Informationen geben würde. Mit der ältesten Tochter, Ruth, hätte ich allerdings sehr gerne gesprochen. Und vielleicht mit der jüngsten, Sissel.
Ich fuhr durchs Fyllingdal, über Krohnegården und parkte den Wagen am Bürgersteig, vierzig Meter vom Haus, in dem sie wohnten, entfernt.
Ich sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach fünf.
Wenn Sissel ein normaler Teenager war, dann hatte sie längst die Hausaufgaben überflogen, einen alten Liebesroman ausgelesen, eine Platte von The Wham gehört und eine Verabredung mit einer Freundin getroffen oder vielleicht sogar mit einem …
Sie war normal. Ich hatte nicht mehr als zwanzig Minuten gewartet, als sie den Gartenweg hinuntergestürmt kam, mit einem ähnlichen Tempo wie am Morgen, und in derselben Daunenjacke und denselben Jeans.
Ich ließ den Wagen zur Pforte rollen, schraubte das Fenster herunter, lächelte mein Teenagerlächeln und sagte: »Kann ich dich irgendwo hinfahren?«
Sie blieb abrupt stehen, die Hand an der Gartenpforte und einen mißtrauischen Ausdruck in dem kleinen Gesicht. »Wer bist du? Ich fahre nicht mit …«
»Erkennst du mich nicht wieder? Ich hab’ heute morgen deine Mutter besucht. Du saustest vorbei, auf dem Weg in die Schule. Bist du pünktlich gekommen?«
Sie kicherte kindisch. »So eben.«
»Varg Veum heiße ich. Ich kannte deinen
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