Gefallene Engel
suchte nach dem Türgriff.
Als sie ausgestiegen war, beugte sie sich plötzlich herunter und sah zu mir herein, als wolle sie sich meine Züge einprägen, damit sie mich beim nächsten Mal wiedererkannte.
»Grüß schön«, sagte ich.
»Brevik?«
Ich nickte, und dann war sie weg.
Ich saß eine Weile da und sah ihr nach. Sie hatte dünne Beine in engen Hosen, eine Daunenjacke, die ihren Oberkörper überdimensional und unnatürlich aussehen ließ, dunkles Haar, das gegen die weiße, lichtüberflutete Kirche, auf die sie zuging, ganz schwarz aussah, und einen Gang, der zugleich leichtfüßig und nachdenklich wirkte.
»Nein, doch nicht«, murmelte ich. »Gott. Wenn du ihn triffst.«
33
Ich selbst traf jedenfalls nicht Gott. Ich mußte mit Vegard Vadheim vorliebnehmen.
Die Tür zu seinem Büro stand offen. Er stand am Fenster, mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einem Blick, der quer durch die heruntergelassenen Jalousien starrte, ohne etwas zu sehen. Da draußen fielen ein paar wenige, abgerissene Eselsohren aus den himmlischen Gesetzbüchern herunter. Der Winter saß noch immer auf dem Flur und wartete darauf, seinen Zeugeneid abzulegen. Aber der Richter war noch nicht soweit.
Er wandte sich zur Tür, wollte etwas sagen, als er sah, wer kam, und sich auf die Zunge biß. »Ach, du bist’s!«
»Hattest du jemand anders erwartet?«
Er antwortete nicht, sondern winkte mich müde auf den freien Stuhl. »Hast du noch mehr Tote zu bieten, Veum? Neue Fast-Unfälle, neue Leichen im Gepäck?«
Ich setzte mich, und er nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Er sah erschöpft aus.
»Was ist mit denen, die ich dir gestern genannt habe? Hast du was rausgefunden?«
Er lächelte verkrampft. »Der gute, alte Veum. Immer dieselben Fragen.«
Hinter uns ging eine Tür. Eva Jensen kam herein, auch sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Als sie mich sah, blieb sie stehen und schwankte, ob sie hereinkommen oder wieder gehen sollte. »Störe ich?«
»Nein, nein.« Vadheim winkte sie herein und gab ihr ein Zeichen, daß sie die Tür schließen sollte. »Veum will gern die Entwicklung des Falls mit uns diskutieren, Eva. Er sieht sich als einen besonderen Abgesandten der … Von wem sollen wir sagen, Veum?«
»Der Republik Nordnes, hilft das?«
»Der Republik Nordnes«, sagte Vadheim zu Eva Jensen. »Der im Norden, weißt du, mit dem Nationalfeiertag am 3. Mai.«
Ich wandte mich wieder an Vadheim: »Du kannst ja wohl sagen, ob du was – rausgefunden hast?«
Er lehnte sich zurück und sagte: »Ja und nein, Veum. Also zur Sache. Über Harry Kløve haben wir gar nichts gefunden. Es war ein Verkehrsunfall mit Todesfolge, und es liegt selbstverständlich ein Bericht vor. Der Fahrer des Busses wurde verhört, ein paar zufällige Zeugen. Nach Aussage des Fahrers hatte eine Traube Menschen am Fußgängerübergang gestanden und gewartet. Er hatte grün gehabt und war gefahren, und dann, genau bevor er an den Fußgängerübergang kam, war Harry Kløve auf die Straße getreten, als käme er von hinten durch die Menge und hätte es zu eilig gehabt, um sich umzusehen. Aber es ging alles so schnell, natürlich, daß er eigentlich überhaupt nichts sah, bevor er den Knall hörte und sah, wie Harry Kløve übers Kopfsteinpflaster geschleudert wurde.«
»Und die Zeugen?«
»Hatten nichts gehört, nichts gesehen, hatten mit sich selbst genug zu tun. Abgesehen von dieser Frau, in den Fünfzigern …« Er blätterte in einer Akte: »… die meinte, Kløve wäre so unnatürlich auf die Straße gesprungen, weiter aber nichts sagen konnte.«
»Und das war alles?«
Er legte den Kopf schräg. »Da ist der Totenschein. Die Todesursache – Schädelbruch, schwere Quetschungen, Rippenbrüche, die zu Lungenperforation geführt haben. Er hatte nicht viel Chancen.«
Eva Jensen hob die Kaffeetasse an den Mund, setzte sie wieder ab und sagte: »Kaffee, Veum?«
»Nein danke, ich …«
»Hjellestad dagegen«, fuhr Vadheim fort. »Am Abend bevor er starb, kam er total nüchtern zur Heilsarmeeherberge in der Bakkegate, badete und putzte sich raus, rasierte sich den Drei-Tage-Bart weg und zog saubere Sachen an … Höchst auffällig für ihn, in der Lebensphase.«
Ich beugte mich interessiert vor: »Ja, und dann?«
»Jemand fragte ihn, wohin er wolle, aber er wollte nicht mit der Sprache raus. Hätte eine Verabredung, sagte er und lächelte schlau. – Aber alle wußten, daß, so wie er sich rausgeputzt hatte, es nur eines von zwei Dingen sein konnte:
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