Gefallene Engel
Wieder unterbrach sie sich.
»Dann weißt du also nichts über – seine letzten, dunklen Jahre?«
»Nein. Es war vorbei, alles.«
»Und du hast ihm nie eine Engeloblate geschickt?«
»Engeloblate? Was meinst du?«
»Ihm – und den anderen?«
»Ich begreife nicht, wovon du redest! Seh’ ich aus wie eine, die Leuten Engeloblaten schickt?« Einen Augenblick lang blitzte tatsächlich ein Funken Humor in ihren Augen auf, und ich mußte selbst lächeln.
»Nein, so siehst du wohl eigentlich nicht aus. Aber du scheinst mir eine ausgesprochene Begabung zu sein, was die Kunst mit der roten Farbe angeht.«
Sie preßte die Lippen zusammen und errötete.
Draußen wurde es dunkel. Das Licht aus der Küche, wo immer noch der Wasserhahn tropfte, fiel in einem Rechteck herein, schnitt die Spitzen ihrer Hausschuhe ab und trennte meine Beine vom übrigen Körper. Alles andere lag im Halbdunkel wie die Vergangenheit, in die ich mich suchend zurückbewegte.
Ich sah über ihre Schulter zum Vorhang. »Was bringt dich dazu, dich mit – so was wie da drinnen abzugeben?«
Sie spannte die Schultern und hob das Kinn, wie um damit zuzuhacken. »Das war – Privatsache. Laß meine Privatsphäre in Frieden!«
»Frieden ist gut. Aber okay. Du …«
»Aber wenn die ganze Welt doch böse ist!« stieß sie plötzlich hitzig hervor. »Man braucht doch was, woran man glauben kann, oder? Jeder braucht einen Glauben – etwas, worauf man bauen kann, etwas Festes und Unveränderliches, was nicht- beschmutzt werden kann. Also … warum nicht zugeben, daß – die Welt um uns herum … Sieh dich doch um! Warum nicht zugeben, daß das Böse die Macht hat, und sich Dem Bösen hingeben? Im Kampf zwischen Dunkel und Licht haben die dunklen Kräfte gesiegt!« Sie starrte wieder zum Fenster, und eine Sekunde lang mußte ich ihr Recht geben.
»Aber du, hier draußen, du bist wohl mit dem Bethaus gleich um die Ecke aufgewachsen, oder? Du bist doch sicher religiös erzogen?«
»Um so offener war ich für die umgekehrte Taufe!« sagte sie triumphierend. »Rituale und Blindheit sind der Schlüssel. Es ist egal, was du tust oder zu wem du betest, sondern daß du was tust, daß du glaubst, ist wichtig!«
»Und darin findest du Sicherheit und Trost?«
»Ja, das tu’ ich.«
»Das macht dich in deiner Umgebung zu einer geachteten und geehrten Persönlichkeit?«
Sie schluckte wieder. »Das geht dich nichts an. Was hier drinnen vorgeht, ist ein heimliches Leben. Eine Entsagung zu Ehren des Fürsten. Etwas, wofür ich belohnt werde … später. So wie ihr es nach euren Prinzipien gelobt!«
»Ich gelobe gar nichts.«
»Dann fahr doch – zum Himmel!« Sie lachte spottend, aber es war eine Verzweiflung in ihrer Stimme, die eher Mitleid hervorrief als Wut.
Ich erhob mich. »Du willst mir also nichts erzählen?«
»Nein!«
»Dann fürchte ich, daß du mit einem Besuch von der Polizei rechnen mußt.«
Ich ließ ihr Zeit, das zu verdauen, um zu sehen, ob es sie redseliger machte.
»Das werden wir dann ja sehen. Sie können mich nicht zwingen, mich an etwas zu erinnern, was ich schon längst vergessen habe.«
»Aber du hast doch gerade gesagt …«
»Aber wenn sie kommen, habe ich alles vergessen.«
Ich stand da und sah sie an. Sie war eine eigenartige Persönlichkeit, stark und schwach zugleich. Sie war der Typ Mensch, der eine törichte Wahl traf, aus einer Laune heraus, und sich danach an diese Entscheidung klammerte, obwohl sie geradewegs in den Untergang führte. »Bevor du alles vergißt- beantworte mir noch eine Kleinigkeit, die Anita vergessen hat …«
Sie sah mich verächtlich an. »Und das wäre?«
»Du hast einen früheren Schulkameraden erwähnt, der auch dabei war – an dem Abend.«
»Ja?«
»Du erinnerst dich nicht zufällig an seinen Namen?«
»Doch, ja. Das tu’ ich. Weil ich ihn schon mal getroffen hatte. Er hat nämlich den Badezimmerestrich gegossen bei uns, ein paar Monate vorher.«
»Gegossen? Er war mit anderen Worten Maurer?«
»Nein«, sagte sie ironisch. »Er war Vorschullehrer! – Was denkst denn du?« fauchte sie. Dann beruhigte sie sich wieder. »Du willst also seinen Namen wissen?«
»Ja?«
»Und was bekomm’ ich dafür?«
»Bekommen? Ich kann bezahlen, und zwar …« Ich steckte die Hand in die Innentasche meiner Jacke.
»Ich will dein dreckiges Judasgeld nicht!« Sie lehnte sich schwer nach vorn, als sei sie Türsteherin in einem Krisenzentrum und ich ohne gültigen Mitgliedsausweis. »Aber wenn du
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