Gefallene Sonnen
Augen und ließ ihre Gedanken treiben. Mit ihrer ganzen psychischen Kraft konzentrierte sie sich auf die Erinnerungen an die freundliche Präsenz des Weltwalds und schickte einen mentalen Ruf in die Leere. Sie rief nach ihrer Tochter. Osira’h musste irgendwo dort draußen sein. Nira vermutete sie in der Nähe des Zuchtlagers, einen halben Kontinent entfernt. Nur einmal, in jener schicksalhaften Nacht, hatte Nira einen Kontakt mit ihrer Tochter herstellen können, nur kurz und doch lange genug, um die Erinnerungen eines Lebens zu übertragen.
Die Wächter hatten sie auf den Kopf geschlagen, mit solcher Wucht, dass sie fast gestorben wäre. Inzwischen hatte sich Nira erholt, aber gelegentlich litt sie noch immer an heftigen Kopfschmerzen… Und jetzt musste sie feststellen, dass es ihr nicht gelang, auch nur eine schwache Verbindung zu ihrer Tochter zu schaffen. Entweder war Osira’h zu weit entfernt, oder Nira verfügte nicht mehr über ihre besondere Fähigkeit.
Inzwischen musste ihre Tochter sie für tot halten, was die Kommunikation noch schwieriger machte.
Wind kam auf, und die Gräser flüsterten wieder miteinander. Es klang nach leisem Lachen.
Vor Jahren, als Nira und die anderen Gefangenen des Zuchtlagers bei der Bekämpfung eines Feuers eingesetzt worden waren, hatte sie einen Fluchtversuch unternommen. Von den Wächtern verfolgt, hatte sie sich in ein dorniges Dickicht geworfen und versucht, einen Telkontakt herzustellen, mit irgendeinem Gewächs. Sie hatte so laut wie möglich in den mentalen Äther gerufen, ohne eine Antwort zu bekommen. Und dann war sie wieder in Gefangenschaft geraten.
Jetzt erlebte sie das Gleiche: keine Antwort von den Bäumen, nichts von ihrer Tochter. Würde die Stille denn nie aufhören?
Nira schickte weiterhin mentale Signale, bis sich erneut heftige Kopfschmerzen einstellten. Es wurde dunkel, und Sterne funkelten am schwarzen Himmel. Ihre Rufe blieben noch immer unbeantwortet.
Osira’h war nicht mehr da.
45 BENETO
Die Stimmen des Waldes erklangen in der Nacht auf Theroc. Aufgrund seiner dualen Natur konnte sich Beneto zurückziehen und ganz er selbst sein oder sein Ich mit dem Bewusstsein des Weltwalds verschmelzen.
Der hölzerne Golem saß allein in einem Kreis aus fünf verbrannten Baumstümpfen, die wie eine Stätte der Andacht für den verletzten Wald wirkten. Lampenschein kam aus den Siedlungen, in denen theronische Überlebende wohnten. Die provisorischen Unterkünfte, bei deren Bau die Roamer geholfen hatten, waren voller Licht, Wärme und Annehmlichkeiten. Phosphoreszierende Nachtinsekten schwirrten mit einem bläulich-weißen Glühen umher und schienen miteinander zu tanzen.
Sarein näherte sich ihm leise. Beneto fühlte die Präsenz seiner älteren Schwester und stellte fest, dass sie alle ihre natürlichen Gefühle für den Weltwald verloren hatte. Sie trug keine Lampe, aber nicht deshalb, weil sie sich unbemerkt an ihren Bruder heranschleichen wollte – niemand sollte sie bei ihm sehen.
»Ich muss mit dir reden, Beneto. Ich möchte verstehen.«
»Ja, Sarein. Ich weiß.«
Tagelang war er von früheren Freunden und Neugierigen umringt gewesen. Nachdem er den Ruf des Weltwalds weitergegeben und die Theronen aufgefordert hatte, auf möglichst vielen geeigneten Welten Schösslinge zu pflanzen, arbeiteten die erschöpften Männer und Frauen noch härter als vorher. Grüne Priester schickten sich an, junge Weltenbäume zu den Kolonien der Hanse zu bringen, und alle anderen sahen besorgt zum Himmel hoch, fürchteten die Rückkehr der Hydroger.
Sarein hatte versprochen, Raumschiffe der Hanse zu holen – als Botschafterin kam diese Aufgabe ihr zu, und sie wusste, worauf es dabei ankam –, aber seltsamerweise war sie Beneto fern geblieben. Sie hatte das hölzerne Abbild ihre Bruders so betrachtet, als widerstrebe es ihr, seine fantastische Geschichte zu glauben. Vielleicht hatte sie zu viel Zeit auf der Erde verbracht, in der Gesellschaft von Geschäftsleuten und Wissenschaftlern: Sie stellte infrage, anstatt einfach zu akzeptieren.
Jetzt kam Sarein endlich, bereit dazu, Fragen zu stellen. Beneto spürte, dass sie sich zwischen zwei Welten hin- und hergerissen fühlte: Obwohl sie auf Theroc geboren war, sehnte sie sich nach der Erde, war aber zurückgekehrt, weil sie sich verpflichtet fühlte, ihrer in Not geratenen Heimat zu helfen.
Mit seinen hölzernen Augen sah er sie perfekt, trotz der Dunkelheit. Seit der letzten Begegnung kurz vor ihrer Abreise zur
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