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Gefallene Sonnen

Gefallene Sonnen

Titel: Gefallene Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin J. Anderson
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warum hatte er sie so schnell aufgegeben?
    »Du bist sehr still«, sagte Jora’h und führte sie in die Kontemplationskammer.
    Osira’h schauderte, obgleich sie wusste, dass ihr nichts Sexuelles bevorstand. Dieser Mann war ihr Vater, der kastrierte Weise Imperator, nicht ihr Freund und Geliebter. Trotzdem sah sie ihn aus beiden Perspektiven. Sie musste beide Blickwinkel in ein Gleichgewicht bringen, ohne das Ausmaß ihres Wissens zu verraten. Jora’h und Udru’h wären sicher entsetzt gewesen angesichts der vielen Dinge, die Osira’h »erfahren« hatte und an die sie sich erinnern konnte. Es kam einer Ironie des Schicksals gleich: Ihre besonderen Fähigkeiten, durch die sie zur Hoffnung des Ildiranischen Reiches wurde, machten sie auch zu einer sonderbaren Anomalie, einer unberechenbaren Einzigartigkeit. Nein, sie durfte nicht erlauben, dass ihr Vater oder sonst jemand von ihrem Geheimnis erfuhr.
    Bevor sie Jora’h antworten konnte, sah sie den Schössling in einer Wandnische. Es funkelte in ihren großen Augen, als sie vortrat. »Darf ich ihn berühren?« Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie erinnerte sich daran, was der Telkontakt für Nira bedeutet hatte, die Verbindung mit anderen grünen Priestern und all den Weltbäumen. Es war ein Trost, auf den Nira lange hatte verzichten müssen. »Meine Mutter war grüne Priesterin.«
    Jora’h lächelte. »Natürlich.«
    Osira’h streckte ihre Hand nach den Blattwedeln aus. Die goldenen, sich überlappenden Schuppen der Rinde glänzten wie weiche Kleinode. Sie berührte die farnartigen Blätter so vorsichtig wie ein Musiker, der sich anschickte, auf den Saiten eines Musikinstruments zu spielen.
    Sie wusste nicht recht, was sie erwarten sollte. Ihre Fingerspitzen prickelten, und tief in ihrem Innern erbebte etwas. Vor dem inneren Auge entstand ein Bild: Nira, die voller Verzweiflung nach dornigem Gebüsch griff, bis ihre Hände blutig waren, ohne eine Möglichkeit, ihre Gedanken mit dem Weltwald zu verbinden.
    Und dann, wie als Reaktion darauf, kamen freundlichere Erinnerungen. Sie erlebte noch einmal den Tag, an dem der Weltwald Nira als neue grüne Priesterin akzeptiert und ihren Körper verändert hatte, damit er Teil des großen telepathischen Netzes werden konnte. Oh, wie glücklich sie gewesen war, als sich ihr plötzlich jenes Universum geöffnet hatte…
    Osira’h zog die Hand zurück. Der Schössling schien zu zittern, aber ihr war keine vollständige Verbindung gelungen, nicht in der Art einer grünen Priesterin. Trotzdem lächelte sie voller Staunen.
    »Er macht dich glücklich, wie ich sehe«, sagte Jora’h. »Ich möchte, dass es dir hier möglichst gut geht, bis du… aufbrechen musst.« Er wanderte durch den Raum, wandte sich ihr dann erneut zu. »Das wird bald der Fall sein. Ich warte noch auf einen Bericht meiner Scoutschiffe über die Ereignisse auf Hyrillka.« Er schüttelte den Kopf. »Ich schweife ab. Diese Sache betrifft dich nicht. Nur ein weiteres Problem im Reich.«
    Osira’h wartete stumm.
    »Ich möchte Zeit mit dir verbringen, dich kennen lernen. Du bist meine Tochter und trägst eine schwere Bürde. Was hältst du davon, wenn wir uns Mijistra ansehen, Museen besuchen oder an den Flüssen wandern?«
    »Yazra’h hat mir das alles schon gezeigt.«
    Der Weise Imperator setzte sich auf seine Bettkissen. »Wenn du schon alles gesehen hast… Lass mich dir von deiner Mutter erzählen. Nira… hat mir viel bedeutet.«
    »Und jetzt ist sie tot.«
    Diese Worte schienen Jora’h Schmerz zu bereiten. »Ja.«
    Zwar wusste Osira’h bereits alles über ihre Mutter – und zwar von ihr selbst –, aber sie beschloss, ihren Vater auf die Probe zu stellen. Sie wollte herausfinden, wie nahe Jora’h der Wahrheit blieb, und hörte aufmerksam zu, als er zu erzählen begann.

44 NIRA
    Nach der Flucht von der Insel, auf der der Designierte Udru’h sie festgehalten hatte, war Nira noch immer allein.
    Im Gegensatz zu den Ildiranern sah sie in Einsamkeit nichts Schreckliches. Die Gesellschaft, die sie während der vergangenen Jahre hatte erdulden müssen, war albtraumhaft gewesen.
    Während der endlosen Wanderung durch die weite, unbewohnte Landschaft gab ihr die Photosynthese der grünen Haut die Kraft, die sie brauchte. Sie konnte überleben; sie war eine grüne Priesterin. Doch die Stille um sie herum und in ihrem Innern belastete sie. Zwar waren ihre Verletzungen längst geheilt, aber gelegentlicher Kopfschmerz erinnerte sie an die Wächter,

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