Gefangen in der Schreckenskammer
herrschte Ordnung. Alles
war untadelig.
Über seinem Schreibtisch hing ein
Gemälde. Es zeigte einen Edelmann des frühen 17. Jahrhunderts — mit geradezu
modernen Gesichtszügen, aber gewaltigem Rüschenkragen über seinem dunklen
Gewand. Es war ein sehr schönes Gemälde — und unerschwinglich kostbar, nämlich
ein echter ,Van Dyck’. (Anthonis van Dyck, flämischer Maler, 1599-1641).
Hartholz hatte diesen Kunstschatz von
einem Erbonkel erhalten und stand seitdem vor einer Entscheidung, die er
bislang nicht getroffen hatte: Sollte er das Gemälde veräußern — an einen
privaten Sammler oder eine staatliche Galerie und mit dem Erlös seine
Studienratsbezüge aufbessern? Oder war er als kultivierter Mensch moralisch
verpflichtet, diesen Schatz zu bewahren und sich daran zu erfreuen?
Hartholz sah unglaublich lässig aus —
für seine Verhältnisse — , trug nämlich anstelle des Jacketts einen Pullover,
aber mit V-Ausschnitt. Und dort wölbte sich der untadelige Knoten einer
dezenten Krawatte.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch,
auf dem eine große Tasse stand. Ein Teebeutel hing im heißen Wasser. Schwaden
stiegen auf. Hartholz drehte seinen Sessel zu Tim.
„Tritt näher! Damit ich dir in die
Augen sehen kann. Ich werde feststellen, ob du lügst.“
„Im allgemeinen lüge ich nicht, Herr
Doktor. Nur im äußersten Notfall.“
„Aha! Und was ist ein äußerster
Notfall?“
„Eine Situation, in der die Wahrheit
wie Dummheit wäre.“
Er dachte an Natascha und Bello.
„Die Wahrheit, Carsten, kann niemals
Dummheit sein, sondern ist immer die Nummer eins in der... äh...“
...Hitparade, dachte Tim, grinste aber
nicht. Offenbar hatte Hartholz Radio gehört, leichte Musik, und war mit seinen
Gedanken noch dort.
„Wo kommst du jetzt her?“
„Aus der Stadt. Von Kommissar Glockner.
Er brauchte mich als wichtigen Zeugen. Aber ich bin nicht befugt, darüber zu
sprechen. Der Fall ist nicht öffentlich.“
„Soll ich das glauben?“
Tim war verblüfft. „Sie brauchen nur zu
fragen.“
„Ach! Ich weiß doch, wie du bei den
Glockners ein- und ausgehst. Die verwöhnen dich wie den künftigen Schwiegersohn.
Daß dich der Kommissar nicht hängen läßt, davon... äh...“
Er hielt inne. Ihm wurde bewußt, daß er
bereits auf Glatteis war und schlitterte.
Tims Miene erstarrte. Wenn es um Gabys
Vater ging, verstand er keinen Spaß. Was Hartholz andeutete, war ungeheuerlich.
„Wollen Sie damit ausdrücken, daß
Kommissar Glockner wissentlich die Unwahrheit sagt, um mir zu helfen? Falls Sie
das meinen, fühle ich mich verpflichtet, Herrn Glockner Bescheid zu geben,
damit er sich rechtfertigen und mit Ihnen…“
„Nein, nein, nein!“ fuhr Hartholz
dazwischen. „So habe ich das nicht gemeint. Kommissar Glockner ist untadelig —
als Mensch wie als Beamter. Das höre ich überall. Ich meine nur, daß er nicht
genau wissen kann, ob du... äh... vom Präsidium sofort hierher gefahren bist oder
noch Umwege... Moment!“
Das Telefon hatte geklingelt — laut und
aufdringlich. Jedenfalls wirkte es so in der Stille der Nacht.
Hartholz wandte sich zum Schreibtisch,
wo der Apparat stand.
Tim war nur eine Armlänge entfernt. Der
Pauker kehrte ihm den Rücken zu.
„Hartholz“, meldete er sich mit dem
Hörer am Ohr.
„Noch auf?“ drang eine verzerrte Stimme
aus dem Draht. „Hast wohl eine unruhige Nacht, wie?“
Tim verstand jedes Wort.
„Wer spricht dort?“ fragte Hartholz.
„Das möchtest du wissen. Nie wirst du’s
erfahren. Aber ich habe erfahren, was mit dir los ist, Hartholz.“
„Ich verstehe nicht. Wer sind Sie?“
„Du bist jedenfalls nicht der
untadelige Pauker, für den du dich ausgibst. Du hast dich maskiert. Deiner
Umwelt spielst du was vor. Du meinst, deine Schüler müßten dich bewundern. Zum
Totlachen, hahaha!“
„Was... wollen Sie?“ stotterte der
Studienrat.
Tim hielt den Atem an. Hartholz schien
zu vergessen, daß er hinter ihm stand.
Auf dem Genick des Studienrats zeigten
sich Schweißperlen.
„Dich daran erinnern, wie du wirklich
bist. Unter deiner Schale, die du trägst wie eine Schildkröte ihr Gehäuse. Und
wie bist du wirklich, Hartholz? Total verkorkst. Du leidest an
Klepper-am-Knie... nee, ist nicht das richtige Wort. Du weißt schon, was ich
meine. Leidest an Stehlsucht. Jetzt hab’ ich’s. Kleptomanie. Jawohl. Ist es
nicht so, daß du jede Woche in einem der hiesigen Kaufhäuser klaust? Immer
Taschentücher und Herrensocken. Herrensocken und
Weitere Kostenlose Bücher