Gefangen in Deutschland
hob ich langsam den Kopf. Mahmud hatte offenbar seine Taktik geändert. Oder aber er hatte nicht mitbekommen, dass ich ihn bereits bemerkt hatte. Ja, das musste es sein, sagte ich mir, Mahmud lauerte mir auf, um mich dann hinterrücks zu überfallen! Wenigstens wollte ich ihm dabei ins Gesicht sehen, wenn er sich daranmachte, mein Schicksal endgültig zu besiegeln. Jäh blickte ich auf.
Doch der Mann hinter der Scheibe war nicht mein Verfolger. Es war Ralf, mein Bruder, dessen bleiches Gesicht mir sagte, dass er über meine Reaktion ebenso erschrocken war wie ich selbst. Behutsam zog er mich aus dem Auto und nahm mich fest in die Arme.
»He, Schwesterlein, ist doch alles okay! Kein Grund zur Panik!«
Ich konnte ihm nicht antworten. Stattdessen flossen nur noch mehr Tränen aus meinen Augen. Es war so lange her, dass jemand einfach nur Mitleid mit mir gehabt oder mich gar getröstet hatte.
Aus seiner verdreckten Arbeitshose zog Ralf eine zusammengedrückte Packung Tempos hervor und begann mir mit einem Taschentuch vorsichtig übers Gesicht zu reiben. Nie zuvor hatte ich meinen Bruder so fürsorglich erlebt. Ich versuchte mich wieder zu fangen und atmete mehrmals tief ein und aus. Als sich mein Gemütszustand etwas beruhigt hatte, erzählte ich ihm nochmals, was sich in den letzten Stunden alles zugetragen hatte.
Ralf hörte mir einfach nur zu und strich mir gelegentlich übers Haar. Wir standen eine ganze Weile so da, bis er plötzlich meine Hand ergriff und mich zur Eingangstür des Roten Ochsen zog.
»Komm, wir gehen da jetzt rein! Dort ist es viel gemütlicher als hier draußen und du kannst erst mal ein bisschen entspannen.«
Ich spürte, wie mein ganzer Körper sich versteifte. Ich wollte nicht unter fremde Menschen! Außerdem konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, etwas Verbotenes zu tun.
»Ralf, ich kann nicht … Bitte! Ich fühle mich nicht gut, ich schaffe das nicht …«
»Ach, komm, Katja, ich bin doch bei dir! Du musst keine Angst haben. Niemand tut dir was! Das ist jetzt vorbei!«, drang mein großer Bruder sanft auf mich ein. »Komm schon! Du wirst sehen, alles wird gut.«
Nach zehn Minuten hatte er mich so weit, dass ich dicht hinter ihm, ein wenig verborgen von seinem breiten Rücken, das Lokal betrat. Er steuerte gleich auf die gut besetzte Theke zu und stellte mich seinen Freunden und Arbeitskollegen vor. Ich wurde von allen herzlich begrüßt und bevor ich einen Blick in die Getränkekarte werfen konnte, hatte schon jemand eine Cola für mich bestellt.
Nach und nach verschwand meine Unsicherheit und ich fing an, mich in der bunt gemischten Truppe richtig wohlzufühlen. Immer wieder wurde ich ins Gespräch mit einbezogen und eine Stunde später hatte ich schon das Gefühl, die Leute ewig zu kennen. Natürlich wollten ein paar von ihnen wissen, warum sie mich nicht schon viel eher zu Gesicht bekommen hätten. Mit keinem Wort erwähnte ich meine Vergangenheit, sondern nannte meine Ausbildung als Grund für meine lange Abwesenheit.
Als wir die Gaststätte verließen, war es weit nach Mitternacht. In bester Stimmung machten Ralf und ich uns auf den Heimweg. Wir alberten herum und unterhielten uns über seine Freunde, zu denen er mir kleine Geschichten zum Besten gab. Als im Radio ein aktueller Hit gespielt wurde, drehte ich den Lautstärkeregler bis zum Anschlag auf und sang aus voller Kehle mit. Nach all den Jahren, in denen ich fast ausschließlich türkische Musik hören durfte, war ich nun kaum mehr zu bremsen. Mit gespieltem Entsetzen hielt sich mein Bruder die Ohren zu und schnitt verzweifelte Grimassen.
Wenig später bogen wir in die Straße ein, an der mein Elternhaus lag. Plötzlich war meine Angst wieder da. Schweiß trat mir auf die Stirn, mein Atem ging nur noch stoßweise. Was, wenn Mahmud sich auf den Weg zu meiner Mutter gemacht hatte, um mich zurückzuholen, und sich nun irgendwo im Schatten des Hauses versteckt hielt? Ich drosselte das Tempo des Wagens auf Schrittgeschwindigkeit herunter und schaltete das Fernlicht ein. Der helle Lichtstrahl leuchtete die kleine Gasse fast komplett aus. Ich konnte sogar die Unkrautbüschel sehen, die aus den Ritzen im Kopfsteinpflaster in die Höhe sprossen.
Doch so gründlich wir uns auch umschauten, nirgendwo war ein Hinweis zu entdecken, dass Mahmud mir irgendwo auflauerte. Ich parkte den Wagen auf unserem kleinen Parkplatz, sprang in Windeseile aus dem Auto und spurtete zur Haustür. Obwohl man meinen Bruder wahrlich nicht als
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