Gefangen in Deutschland
Alter. Es schien mir alles so unwirklich und doch so greifbar!
Aber, durchfuhr es mich plötzlich siedend heiß, würde ich überhaupt die Kraft dazu finden, wieder ein normales Leben zu führen? Wer war ich denn ohne den Schutzkokon, der mich bald vier Jahre lang eingehüllt hatte? Die ganze Zeit hatte ich zu hören bekommen, ich sei dumm, unfähig und zu nichts zu gebrauchen – vielleicht war ja doch etwas dran an diesen Behauptungen? Angst und Mutlosigkeit machten sich in mir breit. Fast bereute ich meine tollkühne Entscheidung, mein früheres Leben Hals über Kopf verlassen zu haben. Mahmud würde nicht eher aufgeben, als bis er mich gefunden hätte, das stand außer Frage – aber was kam dann? Würde er wirklich versuchen mich umzubringen, wie er es mir immer wieder angedroht hatte? Würde er eine jahrelange Gefängnisstrafe in Kauf nehmen, nur um sich an mir zu rächen, die ich es gewagt hatte, ihn zu verlassen und damit vor seiner Familie und seinen Freunden bloßzustellen? Ein Ehrenmord an einer Deutschen, was es meines Wissens bisher noch nicht gegeben hatte – würde er in seiner rasenden Wut tatsächlich so weit gehen?
»Katja, das Essen ist fertig!«
Wie dankbar ich war, als die Stimme meiner Mutter mich aus meinen beklemmenden Gedanken riss! Rasch zog ich mich an, um in die Küche zu eilen, wo sie in der Zwischenzeit Spiegeleier mit Spinat und Bratkartoffeln zubereitet hatte. Eigentlich hatte ich überhaupt keinen Hunger, doch ich zwang mich trotzdem, ein paar Happen zu mir zu nehmen. Zum einen wollte ich meine Mutter nicht kränken, zum anderen würde ich in den kommenden Tagen viel Kraft brauchen, da war es wichtig, dass ich mich vernünftig ernährte.
Ich hatte gerade den letzten Bissen mit einem Schluck Wasser hinuntergespült, als das Telefon klingelte. Ich zuckte zusammen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Das konnte nur Mahmud sein!
Meine Mutter legte zögernd ihr Besteck aus den Händen. Langsam erhob sie sich, um zum Telefon zu gehen. Die Anspannung war ihr anzusehen, als sie den Hörer abnahm.
»Schneidt …«, sagte sie mit belegter Stimme.
Dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Ralf, wie schön, dass du dich meldest!«, begrüßte sie erleichtert meinen Bruder.
In wenigen Sätzen erklärte sie ihm, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. Anschließend reichte sie mir den Hörer weiter.
Ich war so aufgewühlt, dass ich kaum sprechen konnte. Weil unser Gespräch nur stockend vorankam, beschloss mein Bruder, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, indem er mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, ihn in seiner Stammkneipe abzuholen. Er habe nach der Arbeit noch ein paar Freunde getroffen und das ein oder andere Bierchen getrunken, sodass er nicht mehr fahren könne. Und mein Dienst unter Geschwistern, so meinte er, würde zum einen ihm das Geld fürs Taxi nach Hause ersparen und zum anderen mich garantiert ein wenig von meinem Ärger ablenken.
Nach kurzem Zögern willigte ich ein. Wie lange schon hatte ich kein Lokal mehr betreten! Freudige Erwartung erfüllte mich. Endlich würde ich wieder einmal neue Gesichter sehen! Oder vielleicht ja auch altbekannte aus früheren Zeiten! Doch trotz meiner Vorfreude konnte ich mir nicht verkneifen, während der Fahrt zum Roten Ochsen ständig in den Rückspiegel zu schauen, so groß war meine Angst, dass sich Mahmud von irgendeinem Familienmitglied ein Auto geliehen und sich damit auf Verfolgungsjagd gemacht haben könnte.
Meine Sorge war unbegründet. Gute zehn Minuten später parkte ich den Wagen vor dem Stammlokal meines Bruders. Doch irgendwie wollte sich das euphorische Gefühl von eben so gar nicht mehr einstellen. Zaudernd lenkte ich meine Schritte auf die Eingangstür des Roten Ochsen zu. Ich fühlte mich mit einem Mal nur noch zutiefst verunsichert und hätte mich ohrfeigen können, dass ich meinen Bruder nicht gebeten hatte, draußen auf mich zu warten. Meine Kehle begann sich zuzuschnüren und schon wurde ich erneut von einem heftigen Weinkrampf befallen. Schnell flüchtete ich zurück ins Auto.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort zusammengesunken über dem Lenkrad gesessen hatte, als ich unversehens aus den Augenwinkeln einen Schatten neben mir ausmachte. In der ersten Schrecksekunde wollte ich um Hilfe schreien, doch kein Laut drang über meine Lippen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der weder die Autotür aufgerissen noch gegen die Scheibe gebollert oder irgendwelche Hasstiraden gebrüllt wurden,
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