Gefangen
Carmen in jeder Sekunde ihres Lebens. Die Leute haben manchmal komische Wünsche.
Ich folge Tiffanys fliegendem Finger bis zu dem Punkt, an dem ihr manikürter Nagel die Seite verlässt und ihre Stimme einsetzt, und plötzlich werden meine Augen schmal, so groß ist der Schock des Wiedererkennens. Erst jetzt fällt mir auf, was ich schon gestern Abend hätte sehen müssen: Teil eins von Mahlers 8 . Sinfonie ist nicht in Französisch oder Deutsch oder Italienisch. Sprachen, die am Rand der Partitur hingestreut sind, die mir nichts sagen und für die ich keine Geduld aufbringe. Ich hätte mich auf den Titel der Eröffnungshymne konzentrieren sollen. Denn die Hymne ist wie der Titel in Latein.
Als die Mädchen des St.-Joseph’s-Chors die Konkurrenz mit ihrem unglaublichen Gesang wegfegen, stelle ich fest, dass ich jedes einzelne Wort verstehe, das sie singen, als wäre Latein die Sprache, in der ich denke, in der ich träume.
Sie singen:
Veni, creator spiritus
Mentes tuorum visita!
Komm, Schöpfergeist,
kehr bei uns ein!
Schöpfergeist. Die Worte zucken wie Blitze durch mein Rückgrat, das Brausen der Orgel löst kleine Nachbeben in meinem Körper aus.
Und die Musik? Es ist, als wären Serafim mit uns im Raum. Vergiss das ganze Haarspray, die zu dick aufgetragene Wimperntusche, den Gesichtsaufheller, den Abdeckstift, den Lidschatten, die Botoxlippen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich Engelsstimmen. Der Klang reißt mir die Seele auf. Das ist so fröhlich, so erhaben, so schnell, so komplex. Schön. Wenn ich diese Musik jemals in meinem ganzen verfluchten Leben gehört hätte, würde ich mich mit Sicherheit daran erinnern.
Die Mädchen der St.-Joseph’s haben sich längst in zwei deutlich unterscheidbare Stimmkörper aufgeteil t – zwei Chöre, klar, hell und rein. Aber ich bin wie betäubt von meiner neuen Erkenntnis; ich bringe den Mund nicht auf, mache keinen Versuch, bei diesem Gesang mitzuhalten. Genauso wenig wie die meisten anderen im Raum. Ein paar tapfere Seelen schmettern ihre eigene, misstönende Mahler-Version, die vom Gesang der St.-Joseph’s-Mädchen überdeckt wird und zum Glück im Mahlstrom von Orgel, Orchester und Tiffanys Solostimme untergeht. Einer Stimme, die sich hoch aufschwingt, höher, lauter und reiner als alle anderen. Im Saal wird es unruhig, Köpfe recken sich nach der Quelle dieses Klangs.
„Sie ist unglaublich!“, ruft jemand hinter mir.
Ich sehe, wie die Blicke der Musiklehrer von vier Schulen wohlwollend auf Tiffany ruhen, die sich in die Brust wirft und ihre Lautstärke noch einmal steigert.
Arme Carmen. Wenn das hier eine Art Wettkampf ist, verlieren wir ihn gemeinsam. Ich kann mich nicht erinnern, wie man singt, ja, nicht mal, ob ich es überhaupt kann. Mit zitternden Händen blättere ich die Seiten um und frage mich, was ich sonst noch alles über mich vergessen habe.
M r Masson schlägt unbeirrt weiter den Takt, während die Mädchen aus Paradise uns unmissverständlich zu erkennen geben, dass wir so gut wie tot sind, und die Jungen wilde Wetten untereinander abschließen, welche von uns sich als Erste flachlegen lässt. Ich schrumpfe immer mehr in meinem Stuhl zusammen und blättere die Seiten meiner Partitur um, immer einen Sekundenbruchteil nach Tiffany.
Während ich angestrengt lausche, verändert sich die Musik. Ich höre Glocken, Flöten, Hörner, Tonkaskaden von gezupften Streichinstrumenten. Die Musik drängt voran, ruhig, getragen. Ich spüre, dass sich etwas aufbaut.
„Was ist los?“, fragt eine unserer Lehrerinnen, die an der Seite steht, mit stummen Lippenbewegungen. Tiffany wirft mir einen überraschten Blick zu, bevor sie plötzlich den Kopf senkt und auf ihre eigenen Noten starrt, dann wieder zu mir.
Ein zittriger Tenor, der irgendwo in der eisigen Halle sitzt, stürzt sich in ein bebendes Solo, und vereinzelt steigt Gelächter auf, als würde hier ein ungnädiges Studiopublikum von einem drittklassigen Comedy-Typ aufgewärmt. Tiffany erhebt ihre glockenhelle Stimme dagegen und wieder bin ich fassungslos. Wenn sie singt, klingt sie völlig anders als sonst. Sie ist Welten entfernt von ihrer üblichen Kreischstimme und das muss etwas Gutes bedeuten.
Aus den beiden gegenüberliegenden Reihen funkeln mich zwei St.-Joseph’s-Mädchen an, bevor sie hastig in Tiffanys Gesang einstimmen. Zwei weitere Männerstimmen stürzen sich bebend, aber tapfer ins Gefecht. Zusammen singen sie:
Imple superna gratia
Quae tu creasti pectora.
Erfülle mit
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