Gefangen
Halbglatze des Pfarrers in der Tür. Jetzt wird’s brenzlig. Ich wage kaum zu atmen.
Mein Herz hämmert wild, das Blut rauscht in meinen Ohren, und mein Blick verschwimmt. Wieder spüre ich dieses Zucken, als hätte ich mir einen Brustmuskel gezerrt, als wollte Carmen mich vor etwas Schrecklichem warnen. Was soll ich tun?
Die Frau kommt jetzt näher, kehrt mir aber immer noch den Rücken zu. Ich habe höchstens fünf Minuten, bis einer der beiden mich wie zur Salzsäule erstarrt am Bettende entdeckt. Ich muss loslaufen. Aber wohin? Und wie? Schaffe ich es an der Frau vorbei oder fängt sie mich in der Tür ab? Sie könnte ohne Weiteres die zierliche Carmen festhalten, bis ihr Mann da ist oder die Polizei kommt. Auf jeden Fall darf mich hier niemand finden. Carmen hat schon genug Ärger.
Dann passiert etwas Seltsames.
„Esther!“, höre ich den Mann mit lauter Stimme rufen. „Ich brauche deine Hilfe. Komm in die Küche, schnell!“
Die Frau wirbelt herum und läuft mit weit aufgerissenen Augen an meinem Versteck vorbei den Flur entlang. Ohne zu zögern, reagiert sie auf den Hilferuf ihres Mannes.
Ehe ich weiß, wie mir geschieht, sprinte ich schon in die entgegengesetzte Richtung zur Haustür und reiße sie auf. Ich riskiere einen kurzen Blick zurück: Die Frau hält inne und dreht sich verwirrt um, denn ihr Mann blickt überrascht von der Küchentür auf, die er gerade hinter sich verriegelt. Er hat einen Stahlschläger in der Hand.
Und dann geht mir ein Licht auf. Er kann nicht gerufen haben, weil er mich bis jetzt gar nicht gesehen hat.
„Was stehst du da rum? Fang sie!“, brüllt er und zeigt auf mich.
„Aber du hast doch gerade gesagt, dass ic h …“, stammelt die Frau.
Im selben Moment knalle ich den beiden die Haustür vor der Nase zu. Ich renne wie noch nie in meinem Leben und die brennenden Astsplitter der riesigen Kiefer fliegen mir um die Ohren. Alles läuft plötzlich wie geschmiert, als wären Carmen und ich doch noch zu einem einzigen Organismus zusammengewachsen.
War ich das? Nein, unmöglich.
Doch, das war ich.
Die Erkenntnis raubt mir den Atem, als ich schon drei Blocks entfernt bin, und ich lasse mich erschöpft auf den Bordstein einer Einfahrt fallen. Meine Knie zittern vor Anstrengung.
Die Skyline hinter mir leuchtet rot. Der ganze Riesenbaum muss inzwischen in Flammen stehen, und in der Ferne höre ich die Sirenen der Feuerwehrautos. Ich muss unbedingt zu Ryans Haus zurück, bevor die Polizei eine verstört umherirrende Carmen Zappacosta mit Asche im dunklen Lockenhaar aufgreift. Aber ich bin wie gelähmt, kann keinen Finger rühren.
Wozu bin ich noch fähig? Habe ich noch mehr über mich vergessen?
Erst als ich die Kraft finde, mich aufzurichten, sehe ich ihn. Er steht da wie ein stummer Vorwurf auf der anderen Straßenseite und blickt mir in die Augen. Er macht keine Bewegung in meine Richtung. Sein Gesicht verrät weder Zorn noch Kummer, nicht einmal Anteilnahme. Er will mir nur zeigen, dass er da ist. Vielleicht war er schon die ganze Zeit hier und ich habe ihn jetzt erst bemerkt. Seine rechte Hand ruht auf dem Griff eines Schwerts, dessen Klinge sich in seinem weißen Gewand verliert. In seiner linken Handfläche lodert eine Flamme.
Aber das Unheimlichste ist: Er könnte der Bruder meines wahren Selbst sein, mein Zwilling. Ich erkenne die gleichen Gesichtszüge, die mich morgens im Spiegel grüßen. Das gleiche schwere, braune Haar, unmodisch lang, die braunen Augen. Er ist groß, sehr groß. Blass. Klassischer Typ. Breitschultrig. Schön wie eine Statue. Der Mann ist nicht Luc, aber er ist ihm so ähnlich in Haltung und Ausdruck, dass sie ohne Weiteres Brüder sein könnten.
Wer sind sie? Oder was?
Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag.
Wer sind wir?
Jetzt sehe ich an dem Fremden, was Ryan mir vorher beschrieben hat. Seine Haut verströmt Licht, als bestünde sein ganzer Körper daraus. Als wäre er ein Wesen aus reinem Feuer, in einem Gewand, so blendend weiß, dass ich jede Einzelheit erkennen kann.
Ich blicke an mir herab und stelle fest, dass das Licht, das ich in der eisigen Dunkelheit verströme, nur ein Abglanz des lodernden Mannes auf der anderen Straßenseite ist.
Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, lege eine Hand über die Auge n – als Entschuldigung, als Bitte?
Und dann ist er plötzlich fort. Einfach verschwunden.
Kapitel 10
Ryan tritt aus dem Dunkel vor dem Anwesen der Charltons. Im ersten Moment erkenne ich ihn nicht, weil der Kummer mich
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