Gefangen
Sonnengott kommt er daher in blendendem Weiß, sodass ich jede Einzelheit erkennen kann. Als wollte er mich verhöhnen.
Ich will nur eine Antwort auf jene Frage, die er sicher schon in meinen Gedanken gelesen hat. Trotzdem spreche ich sie aus. Wir sind schließlich in meinem Traum.
„Wer ist er?“, frage ich zornig. „Du hast sogar das Gleiche an wie e r – du trägst nicht immer Weiß. Andere Farben stehen dir besser. Lüg nicht!“
Im Handumdrehen verschwinden die Gärten und wir geraten in einen Knochen zermahlenden Sandsturm. Jeder andere würde in Fetzen gerissen, wir nicht. Im Schlaf bin ich unbesiegbar, weil Luc mich beschützt. Es ist alles nur Show, war es immer. Früher war ich geblendet von seinen Tricks. Jetzt wird es mir ein bisschen langweilig.
„Schau!“, schreit er in den Sturm hinein. Er reißt die Arme auseinander, wirft den Kopf zurück und zeigt sich im besten Licht. „Ich habe die Welt für dich neu erschaffen.“
„Lenk nicht vom Thema ab!“, fauche ich.
Erneut nimmt der nächtliche Garten um uns Gestalt an, frische Triebe brechen aus dem Boden zu unseren Füßen hervor, Weinranken winden sich um unsere Knöchel. Der Duft unzähliger Blüten steigt mir in die Nase, wird immer stärker. Alles ist bunter und schöner als in Wirklichkeit, mit einem Wort: überirdisch.
„Müssen wir unbedingt über ihn reden?“, seufzt Luc und umschlingt mich mit seinen Armen wie eine fleischfressende Pflanze. „Ich kann es nicht leiden, wenn wir unsere kostbare Zeit mit Streiten vergeuden.“ Er legt sein Kinn auf meinen Kopf, und für eine Sekunde schließe ich die Augen, genieße die vertraute Geste, die mich durch jedes neue Leben begleitet; es ist die Grundmelodie meiner zersplitterten Existenz.
Auch wenn ich es niemals zugeben würde: Ich fühle mich geborgen in seinen Armen, bei ihm, der mich besser kennt als ich mich selbst. Luc ist anders als die anderen. Er wird nicht bei der ersten Berührung zu einem offenen Buch für mich und kotzt mir sein ganzes vergiftetes Innenleben vor die Füß e … Aber ich darf mich nicht von meiner Frage ablenken lassen.
„Wer ist er?“, wiederhole ich.
Luc schiebt mich sanft fort, hält mich auf Armeslänge von sich. „Er ist ein Vorzeichen, ein Omen“, sagt er schließlich. „Ein Kriegshund. Hör auf meinen Rat. Tu nichts. Tu nichts und wir werden schneller vereint sein, als du denkst. Wenn du jetzt unklug handelst, läufst du ins sichere Verderben. Deutlicher kann ich es nicht sagen, meine Liebe.“
Die Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Blitz. „Dann ist er einer der Acht“, sage ich staunend. Endlich geben sie sich zu erkennen!
„Einer der Acht.“ Lucs Gesicht nimmt nun einen grimmigen Ausdruck an. Aus seinem Körper quillt Licht hervor und gleich darauf ist er verschwunden.
Kapitel 11
Am nächsten Morgen probiert M r Masson eine andere Methode. Er teilt den Chor in einzelne Gruppen auf, jede Gruppe bekommt einen eigenen Lehrer und einen extra Übungsraum. Er nennt das „Workshopping“, aber in Wahrheit will er das heimliche Speed-Dating abstellen, das in seinen Augen den Erfolg des Konzerts gefährdet.
Der schwarz gekleidete Musiklehrer aus Little Falls macht eine Bewegung in unsere Richtung, aber der coole, blonde Junglehrer aus Port Marie kommt ihm zuvor. „Ich übernehme den Sopran, Laurence, okay?“, sagt er freundlich.
Der ältere Mann erstarrt, runzelt die Stirn und wendet sich der zweiten Garde zu, den Altstimmen. Die Mädchen durchbohren uns mit Blicken, während sie widerstrebend hinter ihm aus der Halle traben.
„Ich bin Paul Stenborg“, sagt unser Chorleiter lächelnd und lässt dabei seine strahlend weißen, ebenmäßigen Zähne sehen. „Ihr könnt Paul zu mir sagen. Folgt mir jetzt bitte.“
Fast alle um mich herum springen mit einem geradezu unanständigen Eifer von ihren Sitzen und folgen ihm schnatternd in ein Nebengebäude. Der Kampf um die besten Plätze beginnt, begleitet von Fußgetrappel und Stühlescharren. Die besten Plätze sind vorne bei ihm, vor dem Klavier. Durch reine Willenskraft schaffen es die Mädchen von der St.-Joseph’s dorthin. Tiffany drängt sich wie immer in den Mittelpunkt des Geschehens und zieht mich erbarmungslos mit sich.
Paul Stenborg ist groß und schlank, Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Er hat zerzaustes, sonnenhelles Haar und stylt sich im dezenten Künstlerlook: dunkle Cordhose, abgewetzte Arbeiterstiefel, kunstvoll übereinanderdrapierte Ghetto-Shirts und eine
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