Gefangen
Vintage-Weste, die offen unter einem ausgebeulten, einreihigen Jackett hervorlugt, dazu ein dünner, gestreifter Schal. Metallbrille, knallblaue Augen, ein Hauch von Dreitagebart. Alles perfekt. Ein Gemälde. Also eitel. Ich weiß, dass mir dieser Typ schon irgendwo begegnet ist.
Alle Mädchen sitzen kerzengrade auf den Stühlen, mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen. „Na also“, stellt Tiffany zufrieden fest. „Es wird doch!“
Paul wirft ihr einen raschen Blick unter seinen dichten Wimpern hervor zu, ein Lächeln umspielt seine Lippen, das ihr garantiert den Atem raubt. Ich weiß das, weil ich sie nach Luft schnappen höre. Schließlich sagt er strahlend: „Also, meine Damen, wir fangen bei Strophe eins an.“
Er setzt sich ans Klavier und beginnt mit seinen schönen, feingliedrigen Händen zu spielen. Eine leichte Bewegung entsteht in der vordersten Reih e – ich mittendrin. Alle um mich herum machen zufriedene Gesichter, weil sie von Anfang an die Nase vorn hatten.
Während Paul den Chor in die Mangel nimmt, lehne ich mich zurück und präge mir die neue Musik und die neuen Gesichter ein. Ich schaue auf die Uhr und warte widerstrebend und nervös auf die siebte Strophe. Ich tue nur so, als würde ich mitsingen, denn ich weiß nicht, ob mein Plan funktionieren wird.
Die Probe gerät ständig ins Stocken. An diesem Morgen gehen viele Hände hoch, und Paul beantwortet geduldig jede noch so dumme Frage, die sich die Mädchen ausdenken, um sich bei ihm einzuschleimen. Zum Beispiel: „Oh, Paul, müsste das hier nicht eine Zweiunddreißigstelnote sein? “ – „Nein, Mary-Ellen, aber du hast da etwas Wichtiges angesprochen.“
Für Tiffany nimmt er sich besonders viel Zeit, schenkt ihr mehr Aufmerksamkeit als den anderen, lässt sie hier einen Takt vorsingen, dort eine Phrase, immer wieder, und das alles mit großem Charme und strahlend weißem Zahnpastalächeln, bis die anderen Mädchen in offene Meuterei ausbrechen. Aber Tiffany zieht sich das alles voll rein, wirft mir triumphierende Blicke zu, spielt mit ihren glatten Ponyfransen, fegt uns alle weg mit ihrem lauten Opernorgan. Absolut einzigartig, ein Ausnahmetalent: Ich kann praktisch hören, was Paul denkt. Grinsend verfolgt er, wie sie den Rest der Truppe in den Schatten stellt, und das mit seiner vollen Zustimmung. Es knistert unüberhörbar zwischen den beiden.
Strophe sieben kommt nicht an die Reihe und ich bin erleichtert. Vielleicht komme ich heute noch mal davon.
Als Paul verkündet, dass wir jetzt zu den anderen zurückgehen, wird laut gestöhnt.
„Gott, ich hoffe, dass wir ihn morgen wieder kriegen“, sagt Tiffany glühend. „Er ist der Wahnsinn!“ Dann wirft sie mir einen scharfen Blick zu. „Und? Schaffst du’s?“
Für Tiffany ist alles ein Wettkampf. Ich zucke die Schultern. „Glaub schon. Abwarten und Tee trinken.“
Wir gehen in die große Aula zurück und lassen uns auf unsere Plätze fallen. M r Masson ruft beschwörend: „Ganz von Anfang an!“, und im nächsten Moment erwacht das Geisterorchester zum Leben und alle im Raum stimmen mit ein. Obwohl die Bässe danebenhauen, die Altstimmen dauernd ihren Einsatz verpassen und die Tenöre den Takt nicht halten können, verbreitet sich Zuversicht. Auf einmal glauben alle, dass wir doch noch etwas auf die Beine stellen können. Das Staunen in den Augen der Leute ringsum ist unübersehbar. So langsam entsteht etwas wi e … Musik.
Die ganzen hochnäsigen St.-Joseph’s-Soprane lauern wie die Geier auf Strophe sieben. Ich bin total eingequetscht zwischen Tiffany und Delia, ein paar Mädchen vorne und ein paar hinte n – als hätten sie den Auftrag, mich nur ja nicht entkommen zu lassen. Miss Fellows folgt mir mit ihren dunklen Augen und wartet nur darauf, beim kleinsten Fehler, bei der geringsten verpatzten Zweiunddreißigstelnote Feuer zu spucken.
Eine Sekunde lang steigen Zweifel in mir auf, ein Anflug von Bangigkeit, und wieder spüre ich das Ziehen in der Brus t – Carmen? Meinst du, wir schaffen das? Ja, wir schaffen alles!
M r Masson fängt jetzt meinen Blick auf und bearbeitet die Luft mit geballten Fäusten, damit ich nur ja meinen Einsatz nicht verpasse. Alle Augen sind auf mich gerichtet. Jetzt ist es so wei t – jetzt.
Und dann singe ich die Worte, die ich schon gestern Morgen hätte singen sollen, die Musik, die ich mir erst gestern Abend in einer verzweifelten Stunde ins Gedächtnis eingeprägt habe. Als Mr s Daley mich zum Abendessen rief, konnte ich
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