Gefangen
die Partitur auswendig.
Staunen verbreitet sich, M r Masson strahlt vor Freude, zwei hektische rote Punkte erscheinen auf seinen Wangen. Miss Dustin hält ihre plumpen, mit Ringen gespickten Hände vor ihr fleischiges Gesicht. Denn was sich hier vollzieht, ist ein Wunder: Carmens Körper macht die ganze Arbeit, ihre Muskeln, ihre schmächtige Gestalt, ihr Atem, aber ich bin der Animus, der Verstand, die Kraft. Und jedes Wort, das ich singe, ist mir vertraut, als gehörte es zu einer Sprache, die ich selbst erschaffen habe. Zusammen sind wir göttlich, Carmen und ich. Manche Dinge verlernt der Körper eben nie.
Der alte Musiklehrer ist restlos begeistert, Paul Stenborg gebannt. Alle hören, wie mühelos ich phrasiere, wie kraftvoll und leicht. Sie lauschen meinen Einsätzen, meinen Abgängen, verzaubert von der reinen, lyrischen Schönheit meiner Stimme. Sie ist nicht so voll und opernhaft wie die von Tiffany. Meine Stimme hat etwas nahezu Unirdisches: Lieblichkeit, gepaart mit Stärke. Die Kadenzen steigen zur Decke, steigen und fallen. Einzelne Töne verweilen schwebend, als führten sie ein Eigenleben, als seien sie aus funkelnden Kristallen.
Ich lasse alle hinter mir. Die anderen Solisten singen weiter: die St.-Joseph’s-Mädchen, der zittrige Tenor, der hoffnungslose Bass und der So-là-là-Bariton. Aber sie könnten sich genauso gut mit stummen Lippenbewegungen begnügen. Tiffany ist wütend. Ihr Gesicht leuchtet vor Gehässigkeit wie ein Weihnachtsbaum, während sie mit aller Kraft versucht, mich zu übertönen. Es gelingt ihr nicht, so wenig wie eine Feldlerche einen flammenden Vogel Phönix fängt, wenn er zum Himmel auffliegt. Alle im Raum sind so gebannt, dass der gesamte Chor, fast zweihundert Sänger, nach Strophe zehn den Einsatz verpasst. Ich singe allein weiter, eine Ewigkeit, wie mir scheint, und frage mich, wie viel von diesen überirdischen Klängen auf Carmens Konto geht, und wie viel auf meines, falls überhaupt.
M r Masson stellt plötzlich die Musikanlage ab, und ich halte abrupt inne, lausche den letzten Tönen nach, die noch in der Luft hängen.
Creasti , schimmert dort noch. „Die du schufst“.
„Gut, lassen wir es für heute dabei. Wir treffen uns am Nachmittag um vier Uhr wieder in diesem Saal“, sagt M r Masson mit leuchtenden Augen und dann gerät der ganze Raum in Bewegung. „Wenn ihr so weitermacht, wird das vielleicht doch noch ein richtiges Konzert. Gute Arbeit, Carmen, hervorragend.“ Er nickt in meine Richtung.
Tiffany lässt neben mir Luft ab, was aber mehr wie ein Zischen klingt.
„Wunderschön“, verkündet Miss Dustin und schlägt mir mit ihren Männerhänden so brutal zwischen die Schulterblätter, dass ich fast vom Stuhl falle. „Wirklich schön, Carmen. In deiner Stimme war heute ein Klang, wie ich ihn noch nie gehört habe.“
Ich bin sprachlos, immer noch dankbar, dass mein Plan aufgegangen ist. Offenbar besitze ich ein geradezu unheimliches Gedächtnis für Worte und Musik, und Carmen verfügt über eine Stimmkraft, einen Atem, der sensationell ist. Wer hätte das gedacht? Ein echter Glücksfall, so viel steht fest.
„Du hast es uns gezeigt, das muss man dir lassen“, zischt Miss Fellows giftig, bevor sie weggeht, um mit M r Masson zu sprechen. Der Chorleiter wirft mir ständig verstohlene Blicke zu, als fürchtete er, ich könnte ich mich jeden Moment in Luft auflösen.
In Wahrheit meint Miss Fellows natürlich „reingewürgt“, und nicht „gezeigt“, das ist mir klar. Ich hatte schon immer eine gute Antenne für unterschwellige Botschaften.
Tiffany und ein paar andere Mädchen in meiner Nähe stehen unvermittelt auf und drücken ihre Partituren an sich wie Brustpanzer.
„Ich bin Laurence Barry“, sagt der ältere Musiklehrer von Little Falls und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Heute funkelt er mich nicht böse an, ganz im Gegenteil. „Hast du dir schon überleg t …“
Doch da wird er schon unterbrochen und dafür bin ich dankbar.
„Ich bin Paul Stenborg“, sagt der junge Lehrer aus Port Marie, als hätte er mich nicht den ganzen Morgen links liegen lassen, als hätten seine blauen Strahleaugen auch nur ein einziges Mal auf Carmens unscheinbarer Gestalt geruht. „Aber das weißt du ja schon. Na, jedenfalls hast du dein Licht heute Morgen ganz schön unter den Scheffel gestellt, meine Lieb e – wirklich außergewöhnlich, so unerwarte t …“
Ich spüre Blicke in meinem Rücken, und als ich mich umdrehe, wendet Tiffany
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