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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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ganz benommen macht.
    Ich erinnere mich nicht an den Rückweg. Die ganze Zeit habe ich mein löchriges Gedächtnis nach der geheimnisvollen Lichtgestalt durchkämmt, die mein Doppelgänger sein könnte. Doch da ist nichts als Dunkelheit und niemand, den ich fragen könnte, ein Gedanke, der mich fast zur Verzweiflung bringt. Noch nie war ich so mutterseelenallein. Auf einmal wird mir klar, was ich verloren habe.
    Wer bin ich? Wozu bin ich fähig?
    „Wieso brauchst du so lange?“, fragt Ryan besorgt und streckt eine Hand nach mir aus.
    Ich schlage sie weg. Keine Berührungen mehr. Die bringen nur Schmerz und Verwirrung, während ich jetzt vor allem Klarheit brauche.
    „Du kommst da nie allein rüber“, warnt er mich, als ich auf den Zaun zulaufe, der das Grundstück der Charltons von dem der Daleys trennt.
    „Und ob ich da rüberkomme!“, gifte ich zurück. Und tatsächlich erreiche ich schon beim ersten Anlauf mit der Hand den Zaunpfosten oben und schwinge mich mühelos hinüber. Der Kummer verleiht mir Flügel, gibt mir Riesenkräfte. Ich kann Ryan in meinem Rücken nicht sehen, aber ich spüre sein Erstaunen.
    Schweigend öffnet er die Haustür und wirft mir einen langen Seitenblick zu. Er folgt mir die Treppe hinauf in Laurens Zimmer, will Antworten von mir.
    Ich bin so benommen, dass es mir nichts ausmacht. Reglos schaue ich zu, wie er die Tür hinter uns schließt, seinen schweren Rucksack fallen lässt und die Schreibtischlampe anknipst. Dann dreht er sich zu mir um, die Arme vor der breiten Brust verschränkt.
    „Was ist da vorhin passiert?“, fragt er. „Du bist wie ein anderer Mensc h … als ob ein Licht ausgegangen wäre.“
    Das bringt mich zum Lachen, es ist ein hohles Lachen. „Du glaubst mir ja doch nicht, wenn ich es dir erzähle“, sage ich. Dabei taste ich nach dem Rand von Laurens Bett und lasse mich schließlich erschöpft darauffallen. „Wo also soll ich anfangen?“
    Ryan runzelt verwirrt die Stirn. „Na da, wo wir uns im Haus getrennt haben. Wo denn sonst?“
    „Ja, klar“, sage ich dumpf. „Wo sonst?“
    Also erzähle ich ihm die ganze Story. Nur den Teil, den ich selbst nicht verstehe, lasse ich weg: dass ich es in der Not irgendwie geschafft haben muss, die Stimme des Pfarrers nachzumachen, und zwar so überzeugend, dass seine Frau ihm sofort zu Hilfe eilte und mir damit die Flucht ermöglichte. Natürlich erzähle ich ihm auch nichts von meinem stummen Besucher, dem Flammenmann.
    Ryan und ich sind uns ähnlicher, als ich im ersten Moment dachte. Auch er ist jemand, der all die Zeit verschwunden war wie ein verlorenes Körperglied, das plötzlich wieder zu schmerzen beginnt, obwohl es gar nicht da ist. Nein, er würde mir nicht glauben. Ich glaube mir ja selbst nicht. Es ist, als regte sich etwas in mir, das lange geschlafen hat. Das so lange gefangen war, dass ihm alles abhandengekommen is t – seine Sprache, seine Geschichte, seine Gefühle.
    „Dann hab ich das Richtige getan“, sagt Ryan erleichtert. „Ich war mir nicht sicher. Ich hatte einfach keine Zeit zum Nachdenken.“
    Ich sehe ihn verständnislos an.
    „Na, der brennende Baum“, erinnert er mich. „Der hat dir die Zeit verschafft, das Schlafzimmer zu durchsuchen und dann abzuhauen.“ Seine Version der Ereignisse ist so ganz anders als meine. In seiner Stimme liegt Hoffnung. „Hast du irgendwas gefunden?“
    Ich schüttle den Kopf und seine Augen werden stumpf. Er kramt in seinem Rucksack, holt ei n … ein Gewehr heraus, schwenkt es herum. „Willst du nicht wissen, wie ich das gemacht habe?“
    Wieder das Ziehen: Carmen. Kann sie ihn jetzt sehen? Und versteht sie, was sie sieht? Hat sie Angst?
    Carmen würde vermutlich anders reagieren, aber ich bin zu erschöpft, um mich zu verstellen. In letzter Zeit macht mir fast nichts mehr Angst. Also blicke ich ihn ruhig an, während er das Ding auf die Wand richtet und den Abzug ein paarmal durchdrückt. Klick, klick.
    Das muss das Gewehr sein, über das sich die Schüler der Paradise High die Mäuler zerreißen. Ein großes, schwarzes. Eine tödliche Waffe. Ich glaube nicht, dass ich schon mal ein Gewehr gesehen habe, jedenfalls nicht aus solcher Nähe. Lässt ihn gefährlich aussehen, irgendwi e … Wie war noch das Wort, das Carmen in ihrem Tagebuch verwendet hat? Heiß. Scharf.
    „Du hast auf den Baum geschossen und der Baum hat Feuer gefangen?“, frage ich stirnrunzelnd.
    Ryan wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. „Glaubst du im Ernst, dass das mit einer

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