Gefangen
Teppichstreifen zu sehen ist. Die Stimmen dahinter werden nie lauter als ein Murmeln. Ich will die arme Frau nicht noch mehr in Verlegenheit bringen und gehe in Laurens Zimmer zurück.
Kurze Zeit später kommt Ryan zu mir herein, dreht Laurens weißen Segeltuchsessel um und hockt sich rittlings darauf, damit er mir in die Augen sehen kann.
„Er war’s nicht“, sagt er einfach, ohne den Blick abzuwenden. „Und ich auch nich t – das wird sogar Brenda beschwören, weil wir fast den ganzen Abend zusammen waren. Trotzdem glaubt die halbe Stadt, dass es ein Familiendrama war, und der Rest würde es nur zu gern glauben. Weißt du, dass es morgen genau zwei Jahre her ist? So was vergisst man nicht.“
Ich bleibe stumm. Stewart Daleys Händedruck bei meiner Ankunft war zu kurz, als dass ich sagen könnte, ob er schuldig ist oder nicht. Ich habe den Kontakt vorzeitig abgebrochen, aus Angst vor dem Horror, der mir entgegenschlug. Vielleicht war er es, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur eines: Ryan ist unschuldig.
Morgen sind es zwei Jahre. Zwei Jahre ergebnisloser Suche, zwei Jahre voller enttäuschter Hoffnungen, zwei Jahre schon lastet ein schrecklicher Verdacht auf diesem Haus. Wie in aller Welt soll man ein Geheimnis lüften, das zwei Jahre lang begraben war?
„Wer hat sie als Letztes gesehen?“, frage ich. „War jemand bei ihr an dem Tag, an dem sie entführt wurde?“
Ryan runzelt die Stirn. „Sie war den ganzen Tag mit ihrem Freund zusammen, mit Richard Coates. Aber abends war sie allein zu Hause, weil sie sich mit ihm gestritten hatte. Lauren wollte nicht zum einundzwanzigsten Geburtstag von irgendeinem Kifferfreund von Richard mitkommen. Sie konnte den Typ nicht ausstehen. Lauren und Richard hatten null gemeinsam, obwohl sie so verknallt ineinander waren. Die haben fast nur gestritten. Ich hab’s immer gemerkt, wenn wieder Zoff war, auch wenn Lauren nicht viel drüber geredet hat. Meine Eltern waren an dem Abend ausgegange n – ins Theater. Mum hat immer gesagt: Nur weil wir aus der Stadt weggezogen sind, müssen wir noch lange nicht ‚wie Wilde‘ leben und auf ‚Kultur‘ verzichten. Aber mein Dad hat das anders gesehen. Das Stück muss erst noch geschrieben werden, bei dem er nicht einschläft, sobald der Vorhang aufgeht.“ Er lächelt schief, bevor sich sein Gesicht wieder verfinstert. Ruhig hält er meinem Blick stand. „Mum schwört, dass Dad die ganze Nacht bei ihr war. Das hat sie auch der Polizei gesagt. Sie macht sich immer noch Vorwürfe. Sie war seither nie mehr im Theater und auch sonst nie aus. Als ob sie ihre lebenslustige Seite komplett ausradiert hätte“, fügt er hinzu und blickt zu Boden. „Alles, was fröhlich und positiv an ihr war. Wir haben nicht nur Lauren verloren, sondern meine Mutter gleich mit.“ Er schweigt so lange, dass ich mich frage, ob er still weint.
„Und dieser Richard“, sage ich. „Hat der auch ein Alibi?“
Ryan schreckt aus seiner Versunkenheit hoch. „Nicht nur eins, sondern mindestens fünfunddreißig. Seine Säuferkumpel, alle so um die zwanzig, haben schriftlich bezeugt, dass Richard von halb acht Uhr abends bis zum nächsten Morgen mit ihnen gefeiert hat. Und Maury Charlton hat gesehen, wie Lauren um 9.1 5 Uhr in ihrem Zimmer rumgelaufen ist, und zwar allein. Das hat er jedenfalls der Polizei erzählt.“
„Ich hab morgen Früh um acht Chorprobe“, sage ich vorsichtig. „Aber ich könnte meine doppelte Freistunde am Vormittag unbegrenzt ausdehne n …“
„Gebongt“, sagt Ryan grinsend. Er ist nicht der Typ, dem man alles erst lange erklären muss.
Eigentlich müsste ich in der Stillbeschäftigung sein und das Bevölkerungsprofil der Einwohner von Nordangola studieren, doch stattdessen fahren wir auf der abgelegenen Küstenstraße in Richtung Port Marie. Unterwegs kommen wir an einem verlassenen Militärstützpunkt vorbei. Meilenweit nichts als verrosteter Stahlzaun, der zu einer Reihe kettengesicherter Tore führt. Die Tore sind gut zwanzig Fuß hoch und mit den üblichen Warnschildern tapeziert: Unbefugte haben hier keinen Zutritt.
Ein Stück weiter entlang des sumpfigen Marschlands, das die beiden Küstenstädte verbindet, taucht eine diskret ausgeschilderte Abzweigung zu einer Ölraffinerie auf. In der Ferne sehe ich einen riesigen, plumpen Schlot, aus dem eine rote Feuersäule aufsteigt, Hunderte von Metern hoch. Die Luft über den Salzebenen, die sich bis zu den fernen Raffinerietoren erstrecken, flirrt vor Hitze. Außer den
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