Gefangen
das gleich hinter dem Flachwasser liegt. Daher auch der Name: coronad o – ‚gekrönt‘. In der Strömung sind ’ne Menge Leute umgekommen im Lauf der Jahre, außerdem ist es ziemlich weit weg von der Stadt. Und das Wasser ist garantiert nicht sauber, bei der Industrie hier.“
Ich nicke. Nett und abgelegen also. Richard lässt sich nicht näher darüber aus, was „abhängen“ beinhaltet, und wir fragen auch nicht nach.
„Dann hatten wir den blöden Krach wegen Coreys Party“, fährt Richard fort und starrt auf seine abgewetzten, altmodischen Hightops hinunter. „Das Ganze ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Erst ging’s um die Party, dann um meine Kumpel im Allgemeinen. Dann haben wir plötzlich darüber gestritten, was wir später mal aus unserem Leben machen wollten. Als ich sie endlich zu Hause abgesetzt habe, war sie so stocksauer, dass wir uns nur noch angeschwiegen haben. Das muss gegen fünf gewesen sein, weil die Sonne noch nicht ganz untergegangen war. Lauren ist einfach ins Haus gestürmt, und ich bin weitergefahren und hab mich bei Corey mit ein paar Kumpels zugedröhnt, so wie immer, wenn ich Streit mit Lauren hatte. Und am nächsten Morge n … da war’s zu spät. Zu spät, um irgendwas zu sagen. Um irgendwa s … zu ändern.“
Richards Stimme hat einen komischen Beiklang, wie ein hastig unterdrücktes Schluchzen, und ich wende schnell den Blick ab, als ich sehe, dass seine Augen feucht sind. Sein Kummer wirkt echt.
Ryan fragt mich mit den Augen: Glaubst du ihm?
Schwer zu sagen. Aber ich habe eine todsichere Methode, die Wahrheit herauszufinden. Eine Methode, von der Ryan nichts weiß. Ich muss meinen ganzen Mut für die Berührung zusammennehmen, denn ich weiß nie im Voraus, was dabei ans Licht kommt.
Ich sehe Richard Coates in die Augen, hebe mühsam Carmens Hand und greife nach seinem Handgelenk, das überraschend schmal ist. Ein Typ, der sich mit einer Vierteltonnenmaschine in die Luft wirft und halsbrecherische Loopings und Saltos dreht, müsste klobigere Hände haben.
Meine Linke fängt an zu brennen, ein seltsamer Phantomschmerz, und ich spüre einen steigenden Druck hinter den Augen. Der Junge zuckt nicht zurück, er reagiert überhaupt nicht, seine Züge bleiben so undurchdringlich wie Carmens Gesicht. Er starrt nur auf die Stelle, wo meine Finger seine Haut berühren. Selbst als die Verbindung zwischen uns zündet, bleiben seine hellen Augen ungerührt.
Und ich seh e … alles. Spür e … alles. Genau so, wie er es erzählt hat. Und noch mehr. Zum Beispiel, was „am Coronado Beach abhängen“ für Lauren und Richard in Wahrheit bedeutete. Wie die Sonne langsam im Wasser versank, wie die Wellen auf den Strand rollten, wie die Stunden im Flug vergingen, der Wind auffrischte und den beiden Sand in die Haare blies. Ich sehe, wie sie einander berührten, dann redeten und später ernsthaft zu streiten anfingen. Ich höre ihre Stimmen, die immer lauter und hässlicher werden, sehe die Feindseligkeit in ihrer Körpersprache. Die letzten Stunden, die Richard und Lauren miteinander verbracht haben, laufen wie ein Film vor mir ab. Der Strand ist auf einmal leer und ohne Leben, als wären die beiden die einzigen Menschen auf der Welt, das erste Paar der Schöpfung.
Für mich steht jetzt fest: Auch wenn die beiden kaum etwas gemeinsam hatten, war ihre Liebe unendlich tief, ja beinahe zerstörerisch. Etwas wahrhaft Beneidenswertes. Nur wollte Lauren mehr von Richard, als er zu geben bereit war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte alles ewig so weiterlaufen können. Vielleicht, weil e r – so wie ic h – nicht ganz richtig tickt. Ein Teil von Richard Coates ist nicht von dieser Welt, aber das konnte Lauren nicht akzeptieren. Ich erkenne sein Anderssein, weil ich selbst anders bin.
Ryan hat keine Ahnung, was hier vorgeht. Als ich endlich Richards Handgelenk loslass e – vielleicht sind nur Sekunden vergangen, vielleicht eine ganze Stund e – zieht dieser wortlos die ausgefranste Manschette über seinen tätowierten Arm. Kein Vergleich zu Ryans Eltern. Als sie Carmens nackte Haut berührte n – das war ein Gefühl, als sei ich verbrüht, gehäutet oder mit Säure verätzt worden. Richards Berührung war harmlos dagegen, und das gibt mir zu denken.
Wir starren uns eine Sekunde lang an, bevor wir den Blick von dem Unerklärlichen abwenden. Als Richard wegschaut, zieht Ryan fragend eine Augenbraue hoch.
Ich glaube, Richard sagt die Wahrheit, bedeute ich ihm stumm.
Ryan
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