Gefangen
federleicht. Echt cool, deine Ohnmachtsnummer! Ich steh auf hilflose kleine Mädchen. Ist mal was anderes als deine übliche Kaltschnäuzigkeit.“
Er setzt mich auf dem Beifahrersitz ab. Ich erstarre vor Schreck, als ich eine tiefe, fremde Männerstimme hinter ihm sagen höre: „Wie geht’s deiner Mutter, Ryan? Man sieht sie ja kaum noch. Betty macht sich Sorgen um sie.“
Ryan knallt die Wagentür zu. Ich rutsche auf dem Sitz nach unten und drehe mein Gesicht vom Fenster weg, damit der Fremde mich nicht sehen kann. Ich verstecke meine Hände unter dem Körper und lasse mein Haar ins Gesicht fallen. Jetzt sehe ich aus wie das Inbild eines sturzbetrunkenen Teenagers.
„Meiner Mum geht’s bestens, M r Collins. Den Umständen entsprechend“, sagt Ryan leichthin und versperrt ihm die Sicht auf mich. Ich beobachte alles durch meine leicht geöffneten Lider; die grelle Neonreklame, die in pausenlosem, nervtötendem Stakkato Mulvany’s, Mulvany’s, Mulvany’s verkündet, dringt nur gedämpft ins Wageninnere.
„Und sonst? Hat sich was Neues ergeben?“, fährt der Mann ernst fort. „Du weißt ja, wir haben deinem Vater immer wieder gesagt: Er kann sich jederzeit an uns wenden, wenn er Hilfe braucht.“
„Danke, M r Collins“, sagt Ryan, schüttelt dem Mann die Hand und geht um das Auto herum zur Fahrerseite, um das Gespräch abzukürzen. „Aber Sie wissen ja, wie schwierig mein Dad sein kan n …“ Er schlüpft ins Auto und winkt dem Mann kurz zu.
Ich kann die Antwort des Fremden deutlich hören: „Na ja, kein Wunde r …“ Doch dann startet Ryan den Motor und wir rollen vom Parkplatz.
Als das Mulvany’s nur noch ein ferner, verschwommener Fleck in Ryans Rückspiegel ist, rutsche ich wieder auf dem Sitz hoch und ziehe meine schimmernden Hände unter dem Körper hervor. Ryan wirft mir einen seltsamen Blick zu, dann schaut er wieder auf die Straße.
„Von wegen Magen auspumpen“, sagt er lachend. „Du siehst taufrisch aus. Und dabei behauptet Bailey steif und fest, du hättest acht Whiskey-Cola runtergekippt.“
„Stimmt ja auch.“
Ryan pfeift. „Im Ernst?“
Ich nicke. „Aber mir geht’s gut.“
„He, das gibt’s doch nicht“, sagt er mit einem kurzen Blick zu mir. „So wie Bailey seine Drinks mixt, müsstest du jetzt im Koma liegen: Er nimmt ungefähr neun Teile Bourbon und einen Teil Cok e – wenn du Glück hast.“
Was immer dieser „Bourbon“ sein soll, ich merke so gut wie nichts davon. Carmen hat das Zeug ziemlich gut weggesteckt. Der Alkohol hat sich wohl über die Nervenenden verflüchtigt wie ein Brandbeschleuniger, den man auf ein Lagerfeuer kippt. Und das, ohne auch nur den geringsten Nachgeschmack zu hinterlassen.
„Die Drinks waren gut, aber nicht besonder s … stark“, sage ich und zucke die Schultern.
Wieder lacht Ryan. „Aber warum dann der Ohnmachtsanfall?“, fragt er leicht verunsichert. „Nach allem, was Todd und Clint mir erzählt haben, hättest du diese Tiffany doch locker weggefegt. Warum hast du nicht gesungen?“
Der Pickeltyp heißt also Clint. Ich frage mich, ob Ryan früher mit ihm befreundet war. Ob die drei Mädchen und die drei Jungen zusammen ausgegangen sind? So eine Art Tripel-Date oder was auch immer die Dorfjugend hier so treibt.
„Weil ich keine Ahnung von solcher Musik habe“, erwidere ich schließlich.
Und das ist die Wahrheit. Ich kenne wirklich nichts außer der Mahler-Sinfonie, die ich mir gerade erst eingeprägt habe. Sonst habe ich keine Erinnerung an Musik. Was wieder mal zeigt, wie fehlerhaft mein Gedächtnis ist. Meine Festplatte wurde offenbar gelöscht, vielleicht um mich zu schützen. Oder um mir das Leben schwer zu machen.
„Willst du mich jetzt verarschen?“
„Nein“, sage ich, als wir schließlich vor dem Gartentor der Daleys anhalten. „Ich mag einfach Mahler.“
Ryan lässt den Motor noch einen Augenblick weiterlaufen und dreht sich zu mir um. „Du bist echt der Wahnsinn“, murmelt er. Dann schnallt er sich ab, macht die Tür auf und fügt, ohne mich anzusehen, hinzu: „Manchma l … manchmal bist du so anders, als ob du zwei verschiedene Menschen wärst.“
Ich sitze im Auto und schaue zu, wie er das Ritual ausführt, das seit Laurens Verschwinden nötig ist, um ins Haus der Daleys zu kommen: das schwere Vorhängeschloss öffnen, an dem die Kette befestigt ist, die schwere Torkette abnehmen, das Tor öffnen, zum Auto zurückkehren und durchfahren. Dann das Ganze von vorne, nur diesmal in umgekehrter
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