Gefangen
hinein, den der alte Säufer verströmt.
„Der ist unten in den Werkstätten“, brummt der Mann. „Ihr könnt auf ihn warten, wenn ihr wollt.“ Dann knallt er uns die Tür vor der Nase zu.
Wir wandern über den Friedhof aus toten, verstümmelten Motorrädern, überwiegend Japaner, aber hin und wieder ist auch eine europäische Marke darunter. Die Namen kann ich kaum aussprechen. Vierzig Minuten später, als wir schon aufgeben und den Rückweg antreten wollen, biegt ein zweitüriger roter Lkw in die Einfahrt ein. Auf der Ladefläche ist ein schlammbespritztes Motorrad festgezurrt. Der Fahrer zögert kurz, bremst und springt heraus. Zügig kommt er auf uns zu: ein junger Typ mit dunkelblondem Haar, das er zu einem Mohikanerkamm aufgegelt hat. Eine einzige Strähne hängt ihm ins Gesicht, die Augen darunter sind eisblau. Er trägt mehrere Schichten Skatershirts, alle mit einem Motto bedruckt. Die Ärmel sind hochgekrempelt und geben tattooübersäte Unterarme frei. Seine Cargohose hat mehr Taschen, als ich auf die Schnelle zählen kann.
Laurens Ex ist viel kleiner und feingliedriger, als ich erwartet hatte, und er kommt mir sehr jung vor, fast so jung wie Carmen. Die beide n – Richard und Laure n – müssen ein niedliches Paar gewesen sein. Wie zwei Puppen. Ein Puppenpärchen im Partnerlook. Richard hat keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Vater. Wahrscheinlich kriegt der Alte beim Anblick seines Sohnes jedes Mal eine Höllenwut, weil er ihn an seine durchgebrannte Frau erinnert.
„Ryan Daley“, sagt Richard zögernd. Für einen Biker, der angeblich vor keinem noch so halsbrecherischen Stunt zurückschreckt, klingt seine Stimme erstaunlich sanft.
„Rich“, murmelt Ryan düster und hält ihm die Rechte hin.
Die zwei Type n – so unterschiedlich wie Tag und Nach t – schütteln sich lange die Hand, und ich frage mich, wer von beiden den festeren Griff hat. Keiner macht Anstalten, den Blick als Erster abzuwenden, ihr Grinsen wird starr. Ich beobachte sie fasziniert. Diese stummen Männerrituale werden mir immer ein Rätsel bleiben.
„Und das hier is t …?“, fragt Richard Coates misstrauisch, nachdem sie fast gleichzeitig, wie auf ein geheimes Signal hin, losgelassen haben.
„Carmen Zappacosta“, stellt Ryan mich vor. „Eine alte Freundin von Lauren aus der Zeit, als wir noch in der Stadt gewohnt haben. Wir wollten nur ein bisschen reden.“
Richard zieht die Augenbrauen zusammen; mein Name sagt ihm natürlich nichts. „Lauren hat nie von dir gesprochen, Carmen, aber wir können trotzdem reden. Ihr habt euch ja den richtigen Tag ausgesuch t …“
„Das kann man wohl sagen“, murmelt Ryan und senkt kurz den Blick. „Aber Carmen hat ihren Besuch bei uns nicht zufällig so getim t …“
Ich werfe Ryan einen überraschten Blick zu, aber sein Gesicht verrät nichts. Wahrscheinlich war das nur so dahingeredet. Der Typ ist ein guter Lügner. Fast hätte ich ihm selber geglaubt.
Ohne zu stocken, fährt er fort: „Sie wollte nur erfahren, was du über Lauren weißt und wie euer letzter Tag zusammen war. Damit sie das alles für sich abschließen kann. Sie ist von weit her gekommen, um mit dir zu sprechen.“
Wieder suche ich seinen Blick. Er hat keine Ahnung. Oder vielleicht doch? Aber wie? Ich bin doch hier die Gedankenleserin mit den übernatürlichen Fähigkeiten!
Richard winkt uns zu einer geklauten Parkbank hinüber, die unter einer riesigen Straßenlaterne steht. Die würde gut in einen öffentlichen Park passen oder vor ein Regierungsgebäude. Aber hier dient sie rein praktischen Zwecken: Richard hat sie an mehrere Elektrokabel angeschlossen, damit er nachts genug Licht hat, um an seinen Maschinen zu basteln.
Ich setze mich auf die Bank, während Ryan und Richard stehen bleiben. Beide sind angespannt, aber wenigstens ist keine Feindseligkeit zwischen ihnen zu spüren. Nur eine gewisse Wachsamkeit, weil sie nach all der Zeit immer noch nicht wissen, was sie voneinander halten sollen. Ohne Lauren hätten sich ihre Wege wohl nie gekreuzt.
„Wir haben die letzte Stunde geschwänzt, u m … äh m … am Coronado Beach abzuhängen“, beginnt Richard vorsichtig mit abgewandtem Blick. Ryan ist ein ganzes Stück größer als er.
„Das ist bei der Abzweigung zur Ölraffinerie“, fügt Ryan erklärend hinzu. Seine Miene bleibt undurchdringlich. „Über die nächste Kreuzung hinaus und in die entgegengesetzte Richtung. Coronado Beach ist nicht besonders beliebt wegen des gefährlichen Riffs,
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