Gefangen
mehr.
„Sie muss ein nettes Mädchen gewesen sein“, sage ich vorsichtig, „bei den vielen Freunden, die sie hatte. Ich weiß es von den Fotos. Ihre ganze Kommode ist damit zugepflastert. Ich hätte nie gedacht, dass jemand so viele Freunde haben kann. Bei mir ist das jedenfalls nicht so.“
Das kannst du laut sagen, spottet meine innere Stimme.
Spencers Stimme klingt brüchig, als er endlich die Sprache wiederfindet. „Lauren und ich haben uns einfach nur gut verstanden. Wir waren füreinander da. Sie hat mir zugehört, wenn ich was loswerden musst e – und das war immer ’ne ganze Menge. Du hast ja gesehen, wie mich dieser Stenborg vor versammelter Mannschaft runtergemacht hat. Spencer Grady zu mobben, ist hier schon fast zum Schulsport geworden. Ist doch klar: Wenn schon die Lehrer auf dir rumhacken, ist es ja in Ordnung, dann bist du Freiwild. Lauren war die Einzige, bei der ich mich mal aussprechen konnte. Und wenn sie was auf dem Herzen hatte, war ich natürlich auch für sie da.“
„Wieso, was war mit ihr?“, sage ich leichthin und senke Carmens Blick, damit er nicht sieht, wie ihre Augen vor Neugier funkeln. „Hat sie sich über irgendwas aufgeregt, bevor si e … verschwunden ist?“
„Nicht über etwas, sondern über jemanden“, erwidert Spencer, den Blick nach innen gerichtet.
Ich bin so heiß auf dieses Thema, dass ich mir auf die Zunge beißen muss, um nicht weiterzufragen. Aber ich warte den richtigen Moment ab, nippe wieder an meinem Horrorgesöff, schütte noch mal Zucker rein und rühre kräftig um. Langsam entwickle ich genauso viele nervöse Ticks wie Spencer.
Jetzt komm schon, los, raus damit!
Ich befürchte schon, dass es bei der Andeutung bleiben wird, als plötzlich alles aus ihm herausbricht: „M r Masson wollte sie dazu überreden, Berufssängerin zu werden. Nein, eigentlich wollte er sie zwingen. Aber sie war sich nicht sicher. Wusste nicht, ob eine Gesangskarriere das Richtige für sie war. Er hat sie total unter Druck gesetzt. Er wollte, dass sie von der Paradise High abging und sich für ein Opernstipendium an einer berühmten Musikakademie bewerben sollte; er hat sie schon an der Met in New York gesehen oder so. Und dann die vielen zusätzlichen Proben, die er vor dem großen Konzert für sie arrangiert hatte, das war alles superanstrengen d – vor der Schule, nach der Schule, in der Mittagspause, in den Freistunden. Auch Laurens Beziehung zu Richard, ihrem Freund, hat darunter gelitten. Sie war ständig hin- und hergerissen, wusste nicht, ob sie bereit war, sich voll aufs Singen einzulassen, so wie Masson es von ihr verlangte. Er sagte immer, dass er einen Star aus ihr machen werde.“
Während Carmens Gesicht undurchdringlich bleibt, bin ich wie elektrisiert von diesen Neuigkeiten. Redet er wirklich von M r Masson, diesem verbrauchten alten Mann mit der wilden Haarmähne und den Wurstfingern? Einem Typ, für den es nichts Wichtigeres gibt, als dass man sich strikt an die Tempi hält? Weiß Ryan von M r Masson?
„Das Konzert damals war sein absolutes Lieblingsprojekt“, fährt Spencer fort und trinkt seinen Kaffee aus. Als er beim Zuckersatz am Boden des Bechers ankommt, leckt er sich über die Lippen. „Er hat das Stück selbst ausgewählt, deshalb war es ihm so wichtig. Lauren war sei n – wie heißt das noch ? – ,Protegé‘.“ Spencer zeichnet imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. „Er hat sie alles singen lassen, von Opernarien bis Andrew Lloyd Webber. Und er hat ihr immer wieder gesagt, dass sie das Zeug dazu hätte, an den größten Opernhäusern der Welt Karriere zu machen und sozusagen in die A-Liga der Musik aufzusteigen. Er war richtig besessen von ihr.“
Ich schiebe meinen Becher unauffällig beiseite. Und Spencer, der eine Höllenangst davor hat, anderen Leuten auf den Wecker zu fallen, macht sofort dasselbe.
„Das können wir gern mal wiederholen“, sagt er hoffnungsvoll. „War richtig nett mit dir.“
„Richtig nett“ ist sein Schwachpunkt; so wünscht er sich die Welt und alles, was darin ist. In meinem geborgten Herzen steigt etwas wie Zärtlichkeit für ihn au f – so weit ich überhaupt zu solchen Gefühlen fähig bin.
„Ja, find ich auch“, antworte ich in neutralem Ton, während ich mich dafür stähle, sein Handgelenk zu berühren.
Nur ein kurzer Griff, ein leichter Druck, aber es reicht, um Carmen den kalten Schweiß auf die Stirn zu treiben. Der Kontakt ist hergestellt, ich spüre den Druck hinter den Augen. Rasch
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