Gefangen
suche ich nach Spuren von Lauren in Spencers Erinnerung. Das Brennen in meiner linken Hand schlängelt sich blitzschnell meinen Unterarm hinauf wie ein lebendes Wesen.
Zum Glück verebbt der Schmerz, sobald ich loslasse. Alle meine Vermutungen wurden bestätigt. Brenda hatte also Recht: Spencer war in Lauren verknallt und am Boden zerstört, als sie ihn abwies und kurz darauf verschwand.
Im Gegensatz zu Richard Coates hat Spencer meine kurze Berührung kaum bemerkt.
„Ich geh dann zu Fuß nach Haus e …“ Ich verstumme in der Hoffnung, dass er nicht darauf besteht, mich zu begleiten, obwohl es draußen allmählich dunkel wird. Oder dass er auf mein Angebot zurückkommt, sich von meinen Gasteltern nach Hause fahren zu lassen. „Und du? Ist doch kein Problem für dich, nach Port Marie zurückzukommen, oder?“
„Ich rufe Dad an, der holt mich ab“, sagt er etwas verdrossen. „Mach dir nur nicht ins Hemd. Wir sehn uns doch?“
Ich ignoriere meine böse innere Stimme und zwinge Carmen, fröhlich zu antworten: „Klar doch, spätestens morgen Früh bei der Probe. Vielleicht setzen sie uns sogar wieder nebeneinander. Wäre immerhin möglich. Hat jedenfalls total Spaß gemacht.“
Ein freudiges Grinsen erhellt Spencers sonst so ernstes Gesicht.
Ich schlendere verlegen aus dem Caf é – „normal sein“ fällt mir immer noch schwer. Als ich ihm zuwinke und er strahlend durchs Fenster zurückwinkt, wird mir schlagartig bewusst, dass ich mich verändert habe, auch wenn ich nicht genau sagen kann, wie. Denn früher hätte ich Typen wie Spencer bei lebendigem Leib aufgefressen und hinterher lachend die Knochen ausgespuckt, ohne Rücksicht auf gekränkte Gefühle.
Die Nacht senkt sich über die Straßen von Paradise. Ich entferne mich hastig vom Decades Café , halte mich so weit wie möglich in den hellen Lichtkreisen, die die Straßenlampen werfen, obwohl kaum jemand unterwegs ist. So wie der Wind jetzt daherfegt, kann niemand Blickkontakt mit mir aufnehmen, ohne eine volle Ladung trockener Laubpartikel in die Augen zu bekommen.
Kurz bevor ich das Grundstück der Daleys erreiche, hole ich Carmens kitschiges, pinkfarbenes Handy hervor und drücke Ryans Kurzwahlnamen. Zittern Carmens Finger wirklich ein bisschen oder bilde ich mir das nur ein?
Als er sich meldet, sage ich leise: „Hilfe, ich stehe vor eurem Haus und bete, dass du da bist. Wenn nicht, sitze ich ganz schön in der Tinte.“
„Bleib, wo du bist. Ich komm und hol dich“, sagt er mit seiner vertrauten tiefen Stimme, die jedes Mal eine wilde Sehnsucht nach Normalität in mir weckt, eine Sehnsucht nach Geborgenheit, und sei es auch nur für eine Weile.
Der Wind dreht sich, Stewart Daleys Hunde wittern mich jetzt. Als Ryan mich in die Wärme seines Elternhauses scheucht, erscheint mir die plötzliche, ungezügelte Wut der Tiere fast schon wie eine Begrüßung. Im Erdgeschoss brennen alle Lichter, als wollten sie mich nach einer langen Reise willkommen heißen. Als wäre ich die verlorene Tochter.
„Mum ist oben, Dad wurde bei der Arbeit aufgehalten“, erklärt Ryan, während er die Haustür schließt und so den heulenden Wind aussperrt.
Er sieht so verdammt gut aus, dass ich es kaum schaffe, meine coole Fassade aufrechtzuerhalten. „Hast du einen Moment Zeit? Ich würde dir gern erzählen, was ich heute rausgefunden habe.“
Noch im Gehen streife ich Carmens praktische Bob-Marley-Kapuzenjacke ab. Ich weiß, dass Ryan mir folgen wird, ich suhle mich geradezu in dieser Gewissheit. Mit Genugtuung stelle ich fest, dass mein Verstand wieder richtig arbeitet: Mal ehrlic h – der Typ würde mir bis ans Ende der Welt folgen, wenn er dort etwas Neues über das Schicksal seiner Schwester erfahren könnte. Carmen ist keine Schönheit und ich kann manchmal ein bissche n … na ja, schwierig sein. Also, wem will ich hier was vormachen?
„Zeit, Süße?“, gibt Ryan mit einem schiefen Grinsen zurück. „Für dich immer.“
Vielleicht ist es wieder nur Einbildung, aber Carmens Herz setzt für einen Schlag aus. Hörst du uns etwa zu?, frage ich sie, auf Bestätigung hoffend. Aber natürlich kommt keine Antwort. Meine Gastgeberinnen antworten nie.
Als wir oben am Treppenabsatz ankommen, sehe ich Mr s Daleys geisterhaften Schatten, der sich im Schein ihrer grellen Schlafzimmerlampe bewegt.
Wortlos betreten Ryan und ich Laurens Zimmer. Er knipst sämtliche Lichter an, um die bösen Geister zu vertreiben. Dann schließt er die Tür. Ich lege Carmens
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