Gefangen
vor!“, zischt sie mir zu, und ihre Stimme geht in der anschwellenden Musik unter, sodass nur ich sie hören kann.
Ich zucke nur die Achseln.
Abgesehen davon bin ich sowieso taub für alles, was Tiffany oder die anderen zu sagen haben. Ich denke an Ryan und frage mich, was er macht. Gleichzeitig verfluche ich mich für diese Gedanken. Ich habe weiß Gott Wichtigeres zu tu n – ich muss Lauren und Jennifer retten.
Um Viertel nach sechs sind wir fertig und ich halte nach Laurence Barry Ausschau. Zu meinem Entsetzen ist er nicht mehr im Saal, und als ich herumfrage, stellt sich heraus, dass ihn in der letzten halben Stunde niemand gesehen hat. Er ist schon fort. Ahnt er, dass Ryan und ich ihm auf der Spur sind?
Miss Fellows findet mich in der Menge so zielsicher wie ein Infrarotgeschoss, aber ich flüchte vor ihr zur Mädchentoilette. Dort bleibe ich, bis ich sicher bin, dass sie fort ist, so wie fast alle anderen. Carmen wird nächste Woche nichts zu lachen haben, wenn sie ihr in die Hände fällt. Vielleicht wird ihr der Herr gnädig sein; vielleicht bin ich dann fort. Früher oder später wird sie sowieso lernen müssen, für sich selbst zu sorgen.
Der Flur ist leer, als ich endlich die Toilette verlasse, und die Neonlichter in den Klassenzimmern sind fast alle aus. Die Aula ist eine der letzten Lichtoasen im ganzen Schulkomplex. Ich will gerade die Schule verlassen, um zu den Daleys zurückzugehen, als ich durch die Türöffnung Tiffanys goldblonden Haarschopf sehe. Sie ist eine der letzten Nachzüglerinnen. Sie trödelt absichtlich herum, um dann schnurstracks zu Paul Stenborg hinüberzugehen, der neben dem alten Klavier in der Nähe des Podiums steht.
Die Unruhestifterin in mir treibt mich in den Saal zurück, nur um Tiffany die Schau zu stehlen, nur so zum Spaß. Und warum auch nicht? Es gibt für alles ein erstes Mal. Außerdem brauche ich ein bisschen zusätzliche Information, und Paul verfügt vielleicht über Hintergrundwissen, das mir nützlich sein könnte. Zwei Fliegen mit einer Klappe, denke ich, während ich hinüberschlendere. Was könnte besser sein?
„Hi, Paul“, sage ich fröhlich.
Tiffanys Kopf fährt ungläubig herum.
„He, Tiff“, begrüße ich sie mit Unschuldsmiene. Wahrscheinlich hat sie schon die ganze Woche auf diesen Moment mit Paul Stenborg hingearbeitet.
„Was willst du denn hier?“, blafft sie mich völlig unbeherrscht an.
Ich grinse. „Dasselbe wie du.“
Paul zieht die Augenbrauen hoch. „Oh, das bezweifle ich“, sagt er. „Tiffany wollte mir nur sagen, dass sie Probleme ab Phrase achtundzwanzig hat und nach der Probe eine zusätzliche Einzelstunde bei mir nehmen möchte. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich einfach von dir mitziehen lassen soll. Ich glaube allerdings nicht, dass sie besonders glücklich über meinen Vorschlag war.“
Ich runzle die Stirn, überfliege rasch im Geist die Partitur, die ich Note für Note und Wort für Wort auswendig gelernt habe, bis ich zu Phrase achtundzwanzig komme. Diese Stelle leitet den letzten Abschnitt des Stücks ein, bevor es zum donnernden Finale anschwill t – Solisten, Orchester, Bläser aus dem Off, Chöre, die alle darum wetteifern, den meisten Lärm zu produzieren. Paul hat Recht: Tiffany und ich singen in diesem Abschnitt ziemlich oft dieselben Noten, aber mir ist nie aufgefallen, dass es irgendwelches Gerangel gegeben hätte. Es kann nicht sein, dass Tiffany nicht notensicher ist, bei ihrem unbändigen Ehrgeiz, immer noch eins draufzusetzen und höher, schneller, besser als ihre verhasste Freundin zu sein.
Mein Gesicht hellt sich auf. „Sollen wir die Noten jetzt gleich zusammen durchgehen, Tiff?“, sage ich zuckersüß. „Das wäre überhaupt kein Problem, ich hab massenhaft Zeit.“
Tiffany kriegt einen Augenblick den Mund nicht mehr zu, weil sie in aller Öffentlichkeit beim Wort genommen wird und ihr kindischer Bluff auffliegt. „Oooh!“, schnaubt sie endlich, knallt ihre Partitur zu und lässt mich und Paul einfach am Klavier stehen.
„Oder sollen wir es auf ein andermal verschieben?“, ruft Paul ihr boshaft hinterher. „Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann.“
„Ich auch“, füge ich gnädig hinzu.
Tiffany zeigt uns den Stinkefinger, ohne sich noch einmal umzudrehen, und Paul und ich brechen in Gelächter aus. Es ist klar, dass das nichts Neues für ihn ist. Zickenkrieg und verrückt spielende Hormone, das gehört vermutlich zu seinem Job. Der Mann wurde schließlich von einer Stalkerin
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