Gefangen
Little Falls nach Port Marie.
„Gibt nicht viel, was wir hier am helllichten Tag tun können“, sinniert Ryan. „Aber wenigstens wissen wir etwas, was sie nicht wissen. Ich tippe übrigens auf die Kirche. Mein Traum war richtig, nur das Gebäude falsch.“
Er wendet den Wagen in Richtung Ortsmitte und wir parken einen Block von der vorderen Umzäunung der anglikanischen Kirche entfernt. Sie ist verlassen. Auf dem Schild davor steht: Er will dich für sich.
Die Worte rufen sofort eine Gänsehaut auf Carmens Körper hervor. Sie sind wie ein Echo jener Worte, die Uri mir an den Kopf geworfen hat, bevor er sich so elegant in Luft auflöste.
„Reizend“, sage ich und versuche meine Stimme ruhig zu halten. „Und so passend unter diesen Umständen. Meinst du, M r Barry macht hier ein bisschen Reklame?“
Ryan, der bereits aus dem Auto steigt, verzieht das Gesicht bei meinem lahmen Witz. „Siehst du irgendwas, was einem Pfarrhaus ähnelt?“
Ich schüttle den Kopf und hole tief Luft, um mich zu fangen. „Aber vielleicht ist es irgendwo auf der Rückseite.“
Wir überqueren den kleinen Parkplatz und teilen uns auf. Ryan geht nach rechts zur Kirche, ich gehe nach links zum Gemeindesaal. Ungefähr fünf Minuten später stößt Ryan einen durchdringenden Pfiff aus.
Wie das Pfarrhaus der Presbyterianerkirche von Paradise ist Laurence Barrys Wohnhaus ein bescheidenes, einstöckiges Backsteingebäude. Aber es liegt tatsächlich innerhalb des Kirchengeländes, und diesmal gibt es so etwas wie einen äußeren Zugang auf der Rückseite des Hauses, der mit einer Falltür bedeckt und zwei Vorhängeschlössern aus rostigem Stahl versperrt ist. Ryan stürzt zum Auto zurück, um seinen Rucksack zu holen, während ich mir die Vorrichtung genauer ansehe.
Ich verlasse mich darauf, dass Laurence Barry noch bei der Chorprobe ist, wo ich ihn zuletzt gesehen habe, und kauere nieder, um mit dem Handrücken gegen die Falltür zu klopfen. „Hallo?“, rufe ich. „Lauren?“
Obwohl ich angestrengt lausche, höre ich nichts, gar nichts, nur den Wind, der in den Bäumen raschelt, und einen Vogel, der in der Ferne auffliegt.
„Jennifer?“
Wieder nichts. Aber dafür kann es viele Gründe geben, und zwar nur schlechte. Ich gehe in die Hocke zurück.
Ryan lässt sich neben mir auf die Knie nieder, reicht mir die Taschenlampe und kramt in seinem Rucksack nach einem Bolzenschneider. „Das ist der Ort, ich weiß es“, sagt er heftig atmend. „Alles passt.“
Insgeheim gebe ich ihm Recht; die gesamte Anordnung der Gebäude, die Lage des Parkplatzes, der Kirch e – das alles stimmt gespenstisch mit Ryans Traum überein.
Er knackt rasch das erste Vorhängeschloss, dann das zweite, und stopft den Bolzenschneider wieder in seinen Rucksack. Dann reißt er die Falltür auf, und ich gebe ihm die Taschenlampe zurück, gespannt, was uns da unten erwartet. In dem Loch sind Betonstufen, die in die Dunkelheit führen. Wir sehen einander mit großen Augen an. Hier könnte es sein.
Ich möchte ihm die Hand drücken, eine Regung, die so stark ist, dass ich beide Hände unter die Achseln klemmen muss, um der Versuchung zu widerstehen.
Ryan streift seinen Rucksack wieder über die Schulter und setzt einen Fuß auf die erste Stufe.
Aber dann hören wir das Brummen eines Autos in der schmalen Einfahrt, die sich an der Kirche vorbeischlängelt. Der Wagen fährt zum Wohnhaus des Pfarrers weiter, in das wir gerade einbrechen wollen. Wir sind einen Moment wie erstarrt, dann versuchen wir hastig, die Falltür zu schließen, ohne Lärm zu machen.
In der Panik rutscht sie Ryan fast aus der Hand und Carmen ist ja so kraftlos wie ein zehnjähriges Kind. Ich zerquetsche ihr um ein Haar die Finger, als die Tür mit einem hörbaren Knall zufällt. In aller Eile ordne ich die aufgebrochenen Vorhängeschlösser so darauf an, dass es unberührt aussieht.
Wir kauern uns ins hohe Gras vor der Kellertür, und ich höre, wie ganz in der Nähe eine vertraute Mahler-Passage gepfiffen wird. Die Fliegentür am Vordereingang des kleinen Hauses geht auf, nur wenige Meter von uns entfernt. Jemand lässt einen Schlüsselbund fallen, grunzt laut, bevor er ihn aufliest und den Schlüssel wieder ins Schloss steckt. Trotz des kalten Winds schwitzen Ryan und ich heftig. Die Vordertür geht endlich zu. Schwere Riegel werden vorgelegt.
„Jetzt“, zischt Ryan, und wir laufen geduckt und leise am Haus entlang, um die andere Seite des Gemeindesaals herum, in Richtung von
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