Gefangene deiner Dunkelheit
eingehüllt. »Habe ich das getan?«
Wenn ja, hatte sie nicht an die Gefahr gedacht, ihm ihren Geist zu öffnen. Nur an die, ihn in ihr Herz zu lassen. Sie ließ ihr Gesicht an seinem Nacken liegen, als sie sich weiter durch die Luft bewegten.
Jetzt schau dich doch mal um.
»Ich habe Höhenangst.«
Sie hatte Angst, dass ihr gefallen könnte, was er ihr zeigen wollte. Angst, diesen Mann zu lieben und ihr Leben, für das sie so hart gearbeitet hatte, für immer zu verändern. Sie liebte ihre Arbeit, weil sie wusste, dass sie anderen damit helfen konnte, und sie liebte ihre Unabhängigkeit. Und da war auch dieses furchteinflößende Etwas in ihr, das sie strikt unter Verschluss hielt, weil es ihr solche Angst einjagte, doch dieses Etwas fühlte sich sehr stark zu Manolito hingezogen. In der Stadt, wo sie von Menschen und hektischer Geschäftigkeit umgeben war, verhielt es sich ruhig und blieb unter Kontrolle. Hier jedoch, bei diesem Mann, konnte sie spüren, wie es in ihr wütete und sich zu befreien versuchte. Und sie wagte nicht, es freizulassen.
Seine Lippen strichen über ihren Kopf. Du wirst keine Angst haben, ich verspreche es dir. Du wirst nur meine Welt so sehen, wie ich sie sehe.
MaryAnn schloss kurz die Augen und drückte sich noch fester an ihn. Genau das war es, was sie befürchtete. Sie wollte keine Schönheit in dem Dschungel sehen, sondern höchstens die Insekten. Schwärme lästiger Insekten. Und Blutegel. Denn die gab es hier, das wusste sie. Wenn sie hinschaute, würde sie sich nur auf diese Dinge konzentrieren. Das war das einzig Sichere. Mit einem Bild von großen, fetten, blutsaugenden Insekten im Sinn, hob sie vorsichtig den Kopf und schaute sich um.
Manolito und sie befanden sich hoch oben im Blattwerk eines riesigen Baumes, und als MaryAnn hinunterschaute, sah sie, wie sich die Lianen unter ihnen verflochten und nach und nach eine stabile Plattform bildeten. Immer höher schlangen sie sich hinauf und verwoben sich miteinander, bis sie ein ebenso solides Geländer formten, damit MaryAnn in den Baumwipfeln herumspazieren konnte, als befände sie sich daheim auf einer Dachterrasse. Langsam entließ Manolito sie aus seinen Armen und sah, wie sie ihr Gesicht gen Himmel richtete.
MaryAnn hielt den Atem an, als sie sich umschaute. Ein dünner Nebelschleier lag vor dem mitternächtlich dunklen Himmel, an dem die Sterne funkelten wie Diamanten. So hoch oben in den Bäumen war es beinahe so, als könnte sie den Mond berühren. Und obwohl der Mond noch längst nicht voll war, bot er einen zauberhaften Anblick. MaryAnn ging zu dem Geländer, hielt sich mit beiden Händen fest und blickte hinunter. Sie sah Baumkronen, deren Blätter statt grün silbern schimmerten, Äste, die Gehwege für Tiere bildeten, sie hörte das Geflatter von Vögeln, deren farbenfrohe Federn sich in den Mondstrahlen spiegelten, als sie sich zum Schlafen in den Bäumen niederließen. Nebelfetzen, die zwischen den Baumstämmen aufwaberten, verstärkten noch die Aura des Geheimnisvollen.
An das Geländer gelehnt, drehte MaryAnn sich zu Manolito um und betrachtete ihn fasziniert. Er gehörte zu der Nacht, war wie der Fürst der Dunkelheit. Seine markanten Züge verliehen seinem Gesicht ein edles, maskulines Aussehen, und sein schön geschnittener Mund hatte sowohl etwas Sinnliches wie Grausames. Gefahr und Leidenschaft. MaryAnn drückte ihre Hand an ihren Bauch, um das jähe Flattern darin zu beruhigen.
»Es ist wunderschön, Manolito. Danke, dass du mich hierhergebracht hast.«
Hier gab es weder den Geruch nach Blut noch Tod. Keine jungen Frauen mit Entsetzen in den Augen. Nur die Nacht und Manolito.
MaryAnn lächelte ihn an. »Ich kann den Nebel spüren, aber er ist gar nicht kalt, und auch meine Kleider sind nicht feucht.«
»Ich bin Karpatianer. Ich kann solche Dinge steuern.« Er schwenkte die Hand, und das Laub begann, sich mit Blumen zu verflechten, und ein dickes, weiches Bett zu formen.
MaryAnns Herz schlug in freudiger Erwartung schneller.
»Warum hast du dein Haar zu einem Zopf geflochten? Es ist so schön mit seinen Locken und Wellen und dieser wundervollen Farbe, die im Mondlicht schimmert. Warum trägst du es nicht offen?« Er streckte seine Hand schon nach dem Band aus, mit dem sie es einigermaßen zu bändigen versucht hatte.
Doch sie ergriff seine Hände, um ihn aufzuhalten. »Ich habe von Natur aus krauses Haar, Manolito. Bei diesem Wetter würde es wie eine Löwenmähne aussehen, und ohne einen Friseur
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