Gefangene deiner Dunkelheit
Opfer sexueller Gewalt geworden war, und sie hatten oft über die Ranch gesprochen, aber nie über ein Ferienhaus auf einer privaten Insel. Das Haus war von undurchdringlichem Regenwald umgeben. MaryAnn bezweifelte, dass sie ohne eine Landkarte und einen Führer auch nur zur Start-und-Lande-Bahn zurückfinden würde.
Sie war Psychologin, Herrgott noch mal, und trotzdem konnte sie nicht die nötige Disziplin aufbringen, um ihre wachsende Verzweiflung, ihre bösen Vorahnungen oder den schrecklichen, unerklärlichen Kummer über Manolitos Tod zu überwinden. Sie brauchte Hilfe. Als Psychologin wusste sie das, doch ihr Kummer wuchs und wuchs und setzte ihr gefährliche und beängstigende Gedanken in den Kopf. Sie wollte morgens nicht mehr aufstehen, und sie wollte auch weder das feudale Haus noch den üppigen Dschungel, der es umgab, erforschen. Sie wollte nicht einmal mehr in ein Flugzeug steigen und in ihr geliebtes Seattle zurückkehren. Sie wollte nur noch Manolito De La Cruz' Grab finden und zu ihm hineinkriechen.
Was in Herrgotts Namen war nur los mit ihr? Normalerweise war sie ein Mensch, der an die Philosophie des halb vollen Glases glaubte. Sie war optimistisch genug, um an buchstäblich jeder Si tuation noch etwas Humorvolles oder Schönes finden zu können, doch seit jener Nacht, in der sie mit Destiny an der karpatianischen Feier teilgenommen hatte, war sie so deprimiert, dass sie kaum noch funktionieren konnte.
Zu Anfang hatte sie es noch geschafft, das zu verbergen. Alle waren so beschäftigt gewesen mit ihren Vorbereitungen für die Heimreise, dass sie gar nicht bemerkt hatten, wie still sie gewesen war. Und wenn doch, hatten sie es vielleicht für Schüchternheit gehalten. MaryAnn hatte sich bereit erklärt, nach Brasilien mitzukommen, in der Hoffnung, Juliettes jüngerer Schwester helfen zu können, bevor sie erkannt hatte, in welch großen emotionalen Schwierigkeiten sie selbst steckte. Sie hätte etwas sagen sollen, doch sie hatte nach wie vor geglaubt, der Kummer würde nachlassen. MaryAnn war mit der Familie De La Cruz in deren privatem Jet gereist – mit Manolitos Sarg darin. Während des Fluges hatten die De La Cruz' geschlafen, wie sie es tagsüber immer taten, und sie hatte allein neben dem Sarg gesessen und geweint. Geweint, bis ihre Kehle wund gewesen war und ihre Augen gebrannt hatten. Es war ihr völlig unverständlich, aber sie schien einfach nicht damit aufhören zu können.
Ein Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken auf und ließ ihr Herz gleich schneller schlagen. Sie hatte hier eine Aufgabe, und die Familie De La Cruz erwartete von ihr, dass sie sie auch erfüllte. Der Gedanke, jemand anderem helfen zu wollen, wo sie selbst nicht einmal die Energie aufbringen konnte aufzustehen, war beängstigend.
»MaryAnn?« Juliettes Stimme klang erstaunt und auch ein bisschen alarmiert. »Mach die Tür auf. Riordan ist bei mir, und wir müssen dringend mit dir reden.«
Oh nein. Sie wollte mit niemandem reden. Juliette hatte bestimmt ihre jüngere Schwester ausfindig gemacht, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo im Dschungel versteckt hatte. Karpatianer, Vampire und Jaguarmenschen – manchmal kam MaryAnn sich ein bisschen vor wie Dorothy im Zauberer von Oz.
»Ich bin noch ganz verschlafen«, log sie. Sie konnte gar nicht schlafen, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Sie konnte nur weinen. Und sich fürchten. Egal, wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Ängste und bösen Ahnungen zu überwinden, sie ließen sich einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen.
Juliette rüttelte an der Tür. »Es tut mir leid, dich stören zu müssen, MaryAnn, doch es ist etwas sehr Wichtiges. Wir müssen dringend mit dir reden.«
MaryAnn seufzte. Das war nun schon das zweite Mal, das Juliette das Wort »dringend« benutzte. Irgendetwas war passiert. Sie musste sich zusammenreißen, sich das Gesicht waschen, die Zähne putzen und ihr Haar einigermaßen in Ordnung bringen. Sie setzte sich auf und wischte schnell wieder die Tränen ab, die ihr über das Gesicht liefen. Riordan und Juliette waren beide Karpatianer und konnten ihre Gedanken lesen, wenn sie wollten, aber sie wusste, dass das als schlechtes Benehmen galt, wenn man unter dem Schutz der Karpatianer stand, und war sehr froh über ihre Diskretion.
»Nur einen Moment noch, Juliette. Ich hatte geschlafen.«
Sie würden merken, dass das eine Lüge war. Sie mochten zwar nicht ihre Gedanken lesen, aber sie konnten nicht umhin,
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