Gefangene der Flammen
führte sie mit untrüglicher Sicherheit zu der Stelle, wo sie hinmusste.
Sie machte Miguel keine Vorwürfe. Wie könnte sie? Er war niedergedrückt von Verantwortung und Schuldgefühlen. Riley kam eine Erinnerung an eine ihre Dschungelwanderungen mit ihrer Mutter, als sie noch ein Kind gewesen war. Ein Sturm hatte getobt und an dem Unterschlupf gezerrt, den ihr Führer schnell für sie errichtet hatte, doch Riley hatte sich geborgen gefühlt in den Armen ihrer Mutter. Annabel hatte ihr leise vorgesungen, um ihr die Angst zu nehmen.
Bei dieser lange vergessenen Erinnerung wurde Riley plötzlich klar, was sie zu tun hatte. Das Lied war sanft und leise, kaum mehr als ein Flüstern, aber sie erinnerte sich an die Worte und die Melodie. Ihre Mutter hatte das Lied auch gesungen, während sie im strömenden Regen über schlammige Wege geeilt waren. Die Worte formten sich nun wie von selbst in Rileys Kopf und gewannen an Kraft und Stärke.
Es dauerte nicht lange, bis die anderen ihren Schritt verlangsamten, um ihr näher zu sein und mehr zu hören. Riley beschleunigte das Tempo jedoch wieder, ging an Jubal vorbei und berührte ihn dabei an der Schulter. Er nickte ihr zu, weil er sich der beruhigenden Wirkung ihrer Stimme offenbar bewusst war.
Leise singend marschierte sie weiter, berührte jeden ihrer Mitreisenden an der Schulter, um ihn zu entlasten, wenn sie ihn überholte, und spürte, wie ihr Selbstvertrauen und ihre Macht mit jedem ihrer Schritte wuchsen. Schließlich erreichte sie Miguel. Für sie war klar, wie weit seine heimlichen Bemühungen sie vom Kurs abgebracht hatten, doch statt ihm Vorwürfe zu machen, tat er ihr nur leid. Sie verstand sein Bedürfnis, sie alle zu beschützen, und er hatte ihren Zorn riskiert, um zu versuchen, sie in sichere Entfernung zu dem Vulkan zu bringen.
Riley dämpfte ihr Lied zu einem leisen Summen und überholte Miguel. Mit erhobenen Händen zeichnete sie ein Muster in die Luft, und Bäume, Zweige und Blätter zogen sich zurück, um ihnen das Vorankommen zu erleichtern. Der Boden unter ihren Füßen drängte sie, sich zu beeilen. Das Gefühl, dass höchste Eile geboten war, verstärkte und verbreitete sich, bis es Riley vollkommen beherrschte. Mit einem Mal war sie sich der Stille im Wald bewusst, als warteten selbst die Insekten mit angehaltenem Atem auf ihr Erscheinen, und unter ihren Füßen spürte sie nur allzu deutlich, wie sich der Druck in der Erde erhöhte.
Als würden die anderen vom gleichen Gefühl der Dringlichkeit ergriffen, verdoppelten sie ihr Tempo, und ihre Füße trommelten buchstäblich im Rhythmus ihres Liedes. Die Erdbewegungen wurden stärker, dauerten länger an und rissen sie alle von den Füßen, als sie gerade eben den Fuß des Berges erreichten. Riley grub sofort die Hände in die Erde und spürte die enorme Kraft und gewaltige Hitze im Boden. Und sie fühlte auch den Triumph des heimtückischen Übels, das wie eine Flutwelle mit den Gasen aufstieg.
Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen blickte sie zu Jubal auf. »Ich bin zu spät gekommen. Es ist zu spät.«
KAPITEL SECHS
D er Boden weinte Blutstropfen – ein großer Schmerz befiel die Erde und breitete sich in ihr aus. Sie war tot! Endlich war Arabejila tot. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, ohne den Jäger anzulocken, hätte Mitro Freudentänze aufgeführt. Er hatte es geschafft! Er hatte die einzige Frau vernichtet, die ihm etwas anhaben konnte! Mitro vermochte seine Schadenfreude kaum im Zaum zu halten. Er hatte mit größeren Auswirkungen gerechnet, hatte gedacht, dass die Erde in heftige Bewegung geraten würde vor Empörung und Protest – oder vielleicht sogar versuchen würde, es ihm heimzuzahlen –, aber nichts dergleichen war geschehen. Er war stark geworden, während Arabejila ihre Kraft verloren hatte. Über die Jahrhunderte hatte er ihn bereits gespürt, diesen langsamen Verfall ohne ihren Seelengefährten – ohne ihn, Mitro. Sie hatte es nicht ertragen können, ohne ihn zu leben. Oder zumindest nicht so gut wie er.
Arabejila hatte ihn gebraucht, und trotzdem hatte sie sich auf die Seite dieses arroganten karpatianischen Jägers geschlagen, weil sie gedacht hatten, sie könnten ihn besiegen. Doch sie hatte eine schlechte Wahl getroffen. Mitro hatte wieder einmal bewiesen, dass er stärker, besser und sehr viel intelligenter und gerissener war als alle anderen. Der Jäger und seine Hure hatten das Spiel an Mitros überlegenes Können verloren. Mitro hatte schon immer
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