Gefangene der Flammen
Nachtblumen lag das Geschenk von Mutter Erde – Annabels Halskette. Das Schmuckstück war über Generationen weitergegeben worden, und Annabel hatte es nach dem Tod ihrer Mutter niemals abgenommen.
Riley umkreiste Annabels letzte Ruhestätte, setzte dabei vorsichtig einen Fuß vor den anderen und ließ den Frieden auf sich einwirken. Dann sank sie auf dieses Feld aus weißen Blumen nieder und legte die Hände rechts und links neben das Geschenk, das ihr von Annabel geblieben war. Die Stängel und Blüten neigten sich ihr zu; die Erde schob sich über sie und hieß sie in ihrem Schoß willkommen.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Feuerball, der ihren Körper durchbrauste und sich in ihrem Gehirn entfaltete, als die Erde die Verbindung zu ihr suchte, ihre Tochter willkommen hieß und ihre Geschenke mit ihr teilte. Das Wissen wuchs mit rasender Geschwindigkeit, verbreitete sich durch Rileys Adern und blieb in jeder ihrer Zellen haften. Aus dem Innersten des Planeten spürte Riley den Herzschlag, die geflüsterte Wahrheit allen Lebens. Die Pflanzen in ihrer Nähe streckten ihre Ranken nach ihr aus, um sie zu berühren. Bäume verbogen sich und erwiesen ihr die Ehre, sich vor ihr zu verneigen. Der Wind fächelte ihr Gesicht und kühlte ihre heißen Wangen.
Die Erde rieselte über ihre Finger, und Riley konnte deutlich das Nachlassen ihres grauenvollen Kummers spüren. Der Kloß, der in ihrer Kehle brannte, wurde kleiner, und sie konnte wieder leichter atmen. Als sie die Finger noch tiefer in die Erde grub und diese letzte Verbindung zu ihrer Mutter suchte, spürte Riley eine Welle der Bewegung im Boden, ein leichtes Nachhallen von etwas Bösem. Die geweihte Ruhestätte ihrer Mutter vertrieb das Gewisper, diesen letzten Hauch des Bösen, doch Riley drehte sich der Magen um. Alles, was Annabel ihr über die Vergangenheit und den Vulkan erzählt hatte, stimmte. Ein widerliches Triumphgefühl durchlief plötzlich die Erde, Schadenfreude über den brutalen Mord an ihrer Mutter, durch den das Böse wieder freikam, sich in der Welt herumtreiben und von unschuldigen Menschen nähren konnte.
Rileys Herz geriet ins Stocken, denn nun kehrte das Böse in Richtung Vulkan zurück, und ein schier unerträgliches Gefühl der Dringlichkeit bestürmte sie. Sie musste den Berg erreichen und ihn verschließen, bevor das Monster, das dort gefangen gehalten wurde, fliehen konnte. Schnell zog sie die Hände aus der Erde und blickte sich nach dem Berg um.
Dann griff sie in die Fülle weißer Sternenblumen und nahm vorsichtig das Erbstück, ein Geschenk von Mutter Erde an ihre längst verstorbene Vorfahrin, aus dem Blütenmeer heraus. Rileys Finger zitterten, als sie mit dem Zeigefinger über das silberne, wie ein Drache mit Augen aus feurigem Achat geformte Schmuckstück fuhr. Zwischen den Krallen hielt der Drache einen Himmelskörper aus Obsidian. Riley blickte wehmütig darauf herab und erinnerte sich an die vielen Male, als ihre Mutter ihr den Anhänger gezeigt hatte, den sie stets an einer Kette um den Nacken getragen, aber unter ihrer Kleidung verborgen gehalten hatte wie einen kostbaren Schatz. Da die dünne Kette jedoch nicht mehr da war, steckte Riley das Geschenk in ihre Jackentasche und zog den Reißverschluss fest zu.
Gary reichte ihr die Hand, und Riley ließ sich von ihm auf die Beine helfen. Zum ersten Mal schaute sie ihre Mitreisenden an. Alle machten mitfühlende Gesichter und beobachteten sie aufmerksam. Riley erkannte, dass der Wald ihnen die Sicht auf sie und das, was sie getan hatte, genommen hatte. Sträucher, Bäume und Äste hatten sich über sie geneigt, um das Reinigungsritual vor neugierigen Augen zu verbergen.
»Wir müssen deine Wunden versorgen«, sagte Gary.
»Dazu habe ich keine Zeit«, versetzte Riley. »Ich muss weiter.«
Gary schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass du nichts riskieren darfst. Desinfizier die Bisse und Kratzer! Ich helfe dir dabei. Der Rest von uns packt derweil alles zusammen, damit wir uns wieder auf den Weg machen können.«
Die anderen gingen nacheinander an Annabels letzter Ruhestätte vorbei und berührten Rileys Schulter oder nickten ihr mitfühlend zu. Einige sprachen auch ein Gebet. Die drei Führer vollzogen ihr eigenes Ritual. Während Gary Rileys Verletzungen desinfizierte, was höllisch brannte, schaute sie sich nach den Trägern um.
»Es war nicht Capas Schuld«, erklärte sie.
Miguel drehte sich zu ihr um. »Danke, dass du das sagst!«
»Spürt ihr nicht den
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