Gefangene Seele
treibt dich dazu zu glauben, dass das der Neffe von Mrs. Tyler ist?”
“Na ja. Gestern habe ich ihren Rasen gemäht, und er hat mir das Geld gegeben. Er fragte mich, wie viel sie mir schuldet, und dann sagte er, er wolle Tante Mabel nicht aufwecken, und hat mir das Geld gegeben. Da habe ich mir gedacht, er muss ihr Neffe sein.” Dann fügte er hinzu: “Er ist auch ganz anders. Er hatte Blut auf seinen ganzen Anziehsachen. Er hat mir erzählt, das käme vom Nasenbluten, weil er mal Drogen genommen hat. Mensch … kaum zu glauben, dass Mrs. Tyler solche Verwandten hat, oder?”
Sams Herz raste. Blut? Neffe? Er ging zum Fenster und sah über die Straße. Es hatte sich seit gestern nichts verändert. Es waren derselbe Garten, dieselben Beete, dieselben Blumen, derselbe …
Sam stöhnte.
“Der Postkasten.”
“Sir?”, fragte Kevin.
“Der Briefkasten an der Auffahrt. Er ist voller Post. Das kann ich von hier aus sehen.”
Kevin kam zum Fenster.
“Ja. Vielleicht gehe ich lieber mal herüber und gebe ihr die Post. Vielleicht ist ihre Arthritis so schlimm geworden, dass sie es nicht mehr schafft, den Briefkasten zu leeren.”
Sams Hand zitterte, als er Kevin das Geld gab, dann schob er ihn zurück auf den Stuhl.
“Nein. Auf keinen Fall gehst du zurück zu Mrs. Tylers Haus. Und du verlässt noch nicht einmal mein Haus. Du bleibst hier sitzen”, sagte Sam. “Ich bin gleich wieder da.”
“Aber ich muss heute noch bei drei anderen Leuten Rasen …”
“Jetzt nicht!”, sagte Sam, nahm das Foto und rannte die Treppe hinauf.
Er stürzte in Jades Zimmer.
Sie war kurz davor einzuschlafen, als das Geräusch der Tür sie wieder weckte.
“Was zur Hölle ist los?”, fragte Luke, als er sich im Bett aufsetzte. “Sie war fast eingeschlafen.”
“Entschuldigung”, sagte Sam. “Aber ich glaube, es ist besser, wenn du ganz schnell mit hinunterkommst.”
Luke stand schnell vom Bett auf.
“Was ist los?”
“Weißt du, Kevin … der Junge, der bei mir und den anderen Nachbarn den Rasen mäht?”
“Ja, den kenne ich. Was ist mit ihm?”, fragte Luke.
“Es geht um das Bild, dass du unten auf dem Tisch liegen lassen hast, als du kamst. Jade, Süße? Erkennst du den Mann?”
Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf. “Nein.”
Luke runzelte die Stirn. “Dann trifft meine Überlegung nicht zu.”
Sam holte tief Luft und bemühte sich, ruhig zu sprechen.
“Aber das ist noch nicht alles. Kevin hat mir erzählt, dass der Mann auf dem Foto drüben bei Mrs. Tyler im Haus wohnt. Er hat Kevin erzählt, er sei ihr Neffe.”
Luke spürte, wie ihm schlecht wurde. Er dachte daran, wie leicht es dem Mörder gefallen war, Raphaels Krankenschwester zu töten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Mabel anders ergangen sein sollte.
“Ruf Earl an”, sagte Luke.
“Kevin ist unten”, sagte Sam, “geh, und sprich mit ihm.”
“Sag ihm, dass ich gleich da bin”, rief Luke Sam hinterher, der schon auf dem Weg ins Erdgeschoss war.
Jade bemühte sich aufzustehen. “Was ist los?”
“Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Mann, der Raphael getötet hat, uns von dem Haus der Nachbarin aus beobachtet.”
Ihr Gesichtsausdruck ähnelte dem von Luke: Beide sahen sich entsetzt an. Jades Augen wurden groß, mit zitternder Stimme sagte sie: “Du meinst, er beobachtet uns …? Die ganze Zeit hat er uns im Visier?”
Luke fasste sie bei den Schultern. “Jade, nicht! Ich muss mich darauf verlassen, dass du dich jetzt zusammenreißt. Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen!”
“Geh schon! Mir geht es gut. Wenn er derjenige ist, der Rafie auf dem Gewissen hat, dann lass ihn nicht entkommen.”
“Das werden wir nicht. Aber zuerst bitte ich dich um einen Gefallen.”
“Alles, was du willst”, antwortete sie.
Er berührte sie am Arm, aber dann steckte er seine Hände in die Hosentaschen.
“Ich muss mich darauf verlassen, dass du tust, was ich dir sage. Du musst mir versprechen, dass du dich nicht vom Fleck rührst, dass du hier in Sams Haus bleibst. Er wird auch hier bleiben. Auf keinen Fall darfst du hinausgehen. Du gehst nicht in die Nähe der Fenster. Gib ihm keine Gelegenheit, auf dich zu zielen, verstanden?”
Es war das Wort “zielen”, das Jade daran erinnerte, in welcher Gefahr sich Luke befinden könnte. Und als sie daran dachte, dass sie auch ihn verlieren könnte, wurde ihr schlecht. Sie legte beide Hände auf seine Brust, etwas überrascht davon, wie warm er war und wie ruhig und
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